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2017-01-30

THE DILLINGER ESCAPE PLAN live in der Markthalle, Hamburg (29.01.2017)

The Dillinger Escape Plan


Die Großmeister des maximalbrutalbekloppten Mathcoreabrisses verabschieden sich. Diese Tour und ein paar Festivals noch, dann wird eine kaum füllbare Lücke in der Welt der extremen Stromgitarrenmusik klaffen.

Gestern (nicht heute; hoffentlich haben auch alle frühen Ticketkäufer die Vorverlegung mitbekommen...) verabschiedeten sich The Dillinger Escape Plan in der Markthalle von Hamburg.


Kennen Sie diesen Mann?

Ja, ich habe von diesem Googlenetz gehört, doch ich weiß immer noch nicht, wer da als Support auf der Bühne stand. Genau wie auf meinem letztes Konzert in Hamburg (Oathbreaker und Wife) wurde der Abend mit einem Ein-Mann-Elektroprojekt eröffnet.

Und was der Mann da an Rechner, Reglern und Knöpfen gemacht hat, war schon ziemlich fetter Kram. Melodiearmer Krach, sehr beat- und basslastig. Ich kenne mich in dem Bereich nicht mit Labels aus, würde aber sagen, es hatte etwas von einer Mischung aus 90er Gabba Techno und Noise. Breakbeats, Hip Hop-Samples und Dub steckten da aber auch drin.

Unter den vergleichbaren Acts, die ich gesehen habe, würde ich dies im Mittelfeld ansiedeln. Zum größten Teil gefiel mir dieses Trommelfellgepeinige ganz gut, auch wenn ich es nicht auf Tonträger bräuchte.
In einem kleineren Raum mit weniger Sitzgelegenheiten (das markthallentypische Stufensitzen) hätte es sicherlich auch noch besser gewirkt. Allerdings war eine Dreiviertelstunde davon wirklich zu lang. Spätestens nach dreißig Minuten habe ich schon bei jedem prägnanten Break gehofft, dass nun Schicht im Schacht wäre.
Klar, die Quälerei gehörte auch zum Konzept, aber der Effekt wurde hier dann doch überreizt und schmälerte den Gesamteindruck erheblich.

Die nächste Geduldsprobe folgte auf den Fuß. Denn dafür, dass ja nur ein Tisch mit ein paar Geräten abzubauen und alles andere bereits vorbereitet war, dauerte die folgende Pause auch verboten lange.
Fairerweise kann man natürlich auch annehmen, dass sie sie sich an diesem Abend wegen der Konzertverlegung extra ein bisschen Zeit gelassen haben, um Spätmerkern noch eine Chance zu geben, die Location rechtzeitig zu erreichen.
 

The Dillinger Escape Plan

Als Ringchef Ben Weinman, Schreihals Greg Puciato und Co. dann aber loslegten, gab es etwa achtzig Minuten lang kein Halten mehr.

Der Irrwitz einer Dillinger-Show bleibt nach wie vor mit Worten nicht adäquat erklärbar.
Die Verbindung von Höchstgeschwindigkeit und maximaler Aggression, unfassbarer Technik und entfesseltem Steroiden-Stageacting im Stroboskopgewitter ist durch und durch unerreichtes Meisterhandwerk.

Das Set aus Tracks von allen sechs Alben war enorm abwechslungsreich, denn auch wenn die Basis  dem vom Geist eines tollwütigen Atomphysikers besessenen Maschinengewehrs entsprach, schien doch immer die enorme Bandbreite der Band durch.
Ob in den Mike-Pattonismen des Sängers, sanften popaffinen Passagen, geradlinigen Hits wie "One Of Us Is The Killer" oder puren Jazz Fusion-Freakouts wie in "Low Feels Blvd".

Abgesehen von technischen Aussetzern des Keyboards war es eine rundum arschgeile Show, auch wenn die Architektur des Raumes und der Bühnengraben der Band keine Gelegenheit für epische Sprünge ins Publikum, Deckelhangeleien oder andere ganz irre Stunts boten. Aber mit dem was sie hatten, arbeiteten sie schon beeindruckend.
Nur das zerlegte Drumkit tat mir dann am Ende doch etwas leid.
 

The Dillinger Escape Plan treten auf voller Höhe ihrer Fähigkeiten ab. Schade, aber sehr verständlich, dass man ein live so energiezehrendes Kapitel Krachgeschichte freiwillig abschließt, bevor einen Körper oder kreative Stagnation dazu zwingen.

Nach einem abstinenten Januar war dies mein erstes Konzert im neuen Jahr. Die Messlatte für alle weiteren liegt hoch; mindestens eine weinmansche Gitarrenboxsprunghöhe.


Bleibt nur die Frage, wie clever es ist, dass man in der Markthalle in der Schlange zur Garderobe minutenlang draußen in der Kälte steht und ob man für die Strecke nicht evtl. einen Deckenverleih einrichten sollte.
























2017-01-29

#LBS 04|52 - memorial


Trees around a memorial site. Anyone who follows my photography will probably have seen at least one other version of this, as I have shot there with probably most of my cameras.




2017-01-28

BATTLE OF MICE - All Your Sympathy's Gone

Nach dem Erfolg des großartigen gemeinsamen Albums "Mariner" von  Cult Of Luna und Julie Christmas dürften der Bekanntheitsgrad sowie das Interesse am bisherigen Schaffen der am ersten Weihnachtstag geborenen Sängerin sicherlich spürbar gestiegen sein.

Da passt es natürlich gut, das Gesamtwerk ihrer "Mariner" stilistisch wohl nächsten Band Battle Of Mice auf Vinyl wiederzuveröffentlichen. Konkret bedeutet dies eine Doppel-LP, von der drei Seiten dem bisher nur auf CD erhältlichen 2006er Album "A Day Of Nights" und eine Seite den beiden Songs von der Split-EP mit Jesu gehören.



BATTLE OF MICE - All Your Sympathy's Gone - The Complete Recordings (2LP) (2016)

Never mix music with relationships!

Sinngemäß ist das eine Weisheit, die wohl jeder Musiker kennt. Das Klischee der Männerfreundschaft, die über ein Groupie zerbricht. Oder diese wichtigtuerische Alte vom Frontmann bei Spinal Tap, remember? Natürlich wissen wir aber auch alle, dass das Quatsch ist. Denn es gibt schließlich genügend Gruppen, in denen Liebende oder gar Ehepaare musizieren, ohne dass es zur Katastrophe kommt.
Die neulich von mir besprochenen "Columbia Years" von Betty Davis sind z.B. ein fantastisches Beispiel dafür, wie sich die Energie und Dynamik einer frischen Beziehung (Betty und Miles Davis) sogar direkt auf die Musik übertragen können.

"A Day Of Nights" von Battle Of Mice war allerdings das genaue Gegenteil.

Die kurzlebige Band war so eine Art Post Metal Supergroup, gegründet von Made Out Of Babies-Sängerin Julie Christmas und dem jetzigen A Storm Of Light-Frontmann Josh Graham, der damals bei den instrumentalen Postmetallern Red Sparowes spielte, sowie als Projektionskünstler (nicht musizierendes) Mitglied von Neurosis war.
Die beiden waren - obwohl sie sich schon bei ihrer ersten Begegnung überhaupt nicht ausstehen konnten - in einer intensiven, objektiv betrachtet wohl ziemlich bekloppten On/Off-Beziehung, die für keinen der beiden gesund gewesen sein sein kann. Und "A Day Of Nights" machte die Abgründe zwischen ihnen auch noch zum Thema.

Und so wurde das Album dann auch zu einem offenen Kampf. Mühsam zusammengehalten von Produzent, Multiinstrumentalist und Drummer Joel Hamilton lieferten sich die schweren bösartigen Riffs von Graham eine Schlacht gegen das Organ von Christmas.
Es war ein Fernduell, denn da sie ihre Gegenwart längst nicht mehr ertragen konnten, nahmen sie ihre Parts getrennt voneinander auf.

Das Ergebnis ist monumental verstörend, ein zäher Seelenauffresser auf ähnlichem Level wie Neurosis' "Through Silver In Blood".
Julie Christmas ist als Sängerin ja immer eine Advokatin des extremen Irrsinns mit Substanz gewesen, doch dieses Werk sticht speziell heraus und dürfte sehr wahrscheinlich immer ihr düsterstes bleiben. Wie sie hier zwischenmenschliche Stricke zu giftigen Metaphern spinnt und säuselnd, spuckend, schreiend ihren Frust und Schmerz nach außen kehrt, überschreitet viele Grenzen, vor denen andere Künstler bei wesensverwandten Trennungsalben zurückschrecken.

Im Finale aus den beiden größten Stücken "At The Base Of The Giant's Throat" und "Cave Of Spleen" kann man schließlich regelrecht sehen, wie sie vorm Mikrophon zusammenfällt, während ihre Stimme sich überschlagt und bricht.
Und das Sample im Outro von "Giant's Throat" ist geradezu beängstigend. Man hört Julie Christmas hier als Anruferin aus der Perspektive des Notrufs. Eine Performance, die mich in ihrer brutalen Eindringlichkeit schon fast an Björks emotionale Selbstzerfleischung als Schauspielerin in "Dancer In The Dark" erinnert.

"A Day Of Nights" ist starker Tobak, sehr heftiges Zeug. Musikalisch natürlich auch ein Magengrubenfüller, bleibt das Album aber immer hörbar und ist auch aus heutiger Sicht sowohl in seinen reduzierten als auch in seinen schräg brutalen Passagen nach wie vor kreativ, packend und relevant. Ein Genreklassiker.

Bei all dieser Rosenkriegshölle ist übrigens, um es nicht ganz zu unterschlagen, durchaus auch Platz für ein paar Lichtblicke mit echter Schönheit. Sie sind zwar in der Minderheit und unter der Oberfläche bitter wie der Rest, doch ein Track wie "Wrapped In Pain" zeigt, dass Battle Of Mice auch zu ergreifenden Piano-Balladen fähig waren.


Der Sound war vor zehn Jahren etwas schade. Einerseits würde eine perfekt ausbalancierte Hochglanzproduktion natürlich gar nicht zum Inhalt passen. Anderseits wünscht man sich manchmal schon etwas weniger Low-Fi und mehr Wumms, gerade wenn man das aktuelle "Mariner" zum Vergleich nimmt.
Das neue Mastering der Vinyl-Ausgabe bügelt die Schwächen gut aus und kommt eine ganze Nummer fetter und in sich stimmiger daher, ohne jedoch das Grundgefühl zu verraten. Da meine Digitalversion vom Originalalbum stammt, habe ich beide Versionen nun häufiger gehört und werte die Anschaffung der Doppel-LP daher in jedem Fall auch für alte Fans als Gewinn.


Was ich mir gar nicht erklären kann, ist wie es nach dem Entstehungsprozess von "A Day Of Nights" überhaupt noch mehr Studioaufnahmen geben konnte.

"The Bishop" und "Yellow And Black" waren mir schon bekannt, da ich die ursprüngliche Veröffentlichung bereits besitze. Für den sich diesmal weniger einbringenden Joel Hamilton kam ein neuer Drummer, und gerade im wilderen Schlagzeugspiel findet sich hier ein hörbarer Unterschied zu den Albumtracks. Generell sind die beiden Stücke wohl auch objektiv gesehen die anspruchsvollsten Kompositionen hier. Auch die Produktion kann mehr als die des Albums. An Intensität fallen die Songs aber gegenüber dem vorangegangenen groben Liebesexorzismus natürlich trotzdem irgendwie ab.

Ich liebe diese Tracks - gerade "Yellow And Black" ist eine gigantische Post-Metal-Dampfwalze. Als Gegenpol zu Justin Broadricks exzellenten Jesu-Geschleiche auf der gemeinsamen Split-12" sind sie allerdings noch eine Ecke besser aufgehoben als hier.

Schaden tun sie aber natürlich nicht. Die vierte LP-Seite ist ja sowieso da.


Es bleibt nur meine uneingeschränkte Empfehlung!

Und wer Sammler ist und nicht genug bekommen kann, dem lege ich ebenso ans Herz, sich mal nach der Red Sparowes / Made Out Of Babies / Battle Of Mice-Triple-Split-EP aus drei 7-Zöllern "Triad" umzuschauen. Auch ein sehr schönes Teil!


Highlights: Yellow And Black, Cave Of Spleen, At The Base Of The Giant's Throat, Bones In The Water, Wrapped In Plain 

2017-01-20

Mosch-Party abgesagt.


Ok, ich sehe ja ein, dass man die meisten dieser Platten wahrscheinlich entsorgen sollte. Nur das Konzept, seinen Müll einfach aus dem Auto zu schmeißen, finde ich generell eher armselig.

Ein paar Lensbaby-Fotos habe ich natürlich trotzdem gemacht.



















2017-01-15

#LBS 02|52 - stiff breeze


A short Lensbaby break in the Schietwetter of Dithmarschen.


KÖHNEN PANDI DUO - Darkness Comes In Two's

Zeit für die erste Musikempfehlung aus dem laufenden Jahr!

Auf Bandcamp gibt es nun eine Liveimprovisation von Musikern des Kilimanjaro Darkjazz Ensembles (bzw. der Mount Fuji Doomjazz Corporation) und Merzbow aus dem vergangenen November zu hören - und natürlich runterzuladen.

Für wen das jetzt schon interessant bis unwiderstehlich klingt, der kann sich meine folgenden paar Sätze auch zu lesen sparen und gleich zum Köhnen Pandi Duo hinüberklicken!



KÖHNEN PANDI DUO - Darkness Comes In Two's (download) (2017)

Jason Köhnen (Elektronik) und Balasz Pandí (Schlagzeug) freejazzen sich innerhalb einer Dreiviertelstunde durch drei eng miteinander verbundene Bewegungen.

Free dark ambient oder Doomjazz sind die naheliegendsten Genrebezeichnungen für die soundtrackartigen, experimentellen Klanglandschaften, die sich hier erheben. Sollte ich dieses Bild noch weiter spezifizieren, würde ich konkret von der Wellenlandschaft eines Meeres unter dem Mondlicht sprechen, denn sowohl die zahlreichen elektronischen Sounds und Samples, als auch das zumeist eher Texturen als konkrete Beats beisteuernde Drumming, bewegen sich in steten, geduldigen Wogen. Ein alles umfassender, rauschender Rhythmus, über dem sich zahlreiche dramatische Klangbilder manifestieren.

"Darkness Comes In Two's" ist exzellente epische Düstermusik, in der man sich nur zu gerne verlieren mag. Wer sich zwischen coltraneschem Free Jazz und Brummbombastwerken wie "Altar" von Sunn O))) und Boris zu Hause fühlt, der wird hier gut bedient.

Ungeduldig reinzuhören, ist zwar generell nicht anzuraten, aber wenn man nur ein paar Minuten Zeit hat, dann sollte man den zweiten Track "ii" anspielen. Jener ist am kürzesten und bringt den Charakter der Session wohl am wesentlichsten auf den Punkt.

Den waren Klimax erreicht das Album allerdings - wie es sich gehört - erst am Gipfel des längsten, finalen Tracks.

Ein passend großräumiger Klang krönt die tadellose Liveaufnahme. Eine absolut runde Sache also!





Highlights: iii, ii

2017-01-12

LAIBACH - Live In Hell

Sowas aber auch, fast wäre 2016 ganz ohne eine Veröffentlichung von Laibach zu Ende gegangen! Neues, bereits live erprobtes Material gäbe es ja genügend...

Doch im Dezember hat Vinyl On Demand immerhin doch noch den Release eines der ältesten Livealben der Band rausgehauen.



LAIBACH - Live In Hell (LP) (1985/2016)

"Live In Hell" wurde 1985 auf einem Konzert in Hertogenbosch mitgeschnitten und erschien damals als "Live In V2" auf Kassette.
2010 sah das Ding dann erstmals auf rotem Vinyl das Licht der Welt, als Teil einer limitierten Sonderauflage der ohnehin schon limitierten - und heute daher ziemlich mondpreisigen - Box "Gesamtkunstwerk - Dokument 81-86", welche u.a. fünf weitere Live-LPs enthält.

Nun ist sie also wieder da, erneut verpackt im Stil jener Box, mit der klassischen Neuen Slowenischen Kunst der frühen Achtziger als Coverartwork, ganz ohne Namen oder Songtitel, dafür stilecht mit Kreuz.

Der Zeitrahmen ist natürlich derselbe, aus dem auch die Hamburg-Aufnahme "Neu Konservatiw" stammt, es gibt also auch hier das "Nova Akropola"-Material der "Die erste Bombardierung über dem Deutschland"-Tour zu hören. Tatsächlich ist das Set identisch, "Live In Hell" enthält aber mit "Vojna Poema / Sredi Bojew" einen satte vierzehn Minuten langen Doppeltrack mehr.

Von der Soundqualität soll man auch hier natürlich keine Wunder erwarten. Es ist eine Low-Fi-Undergroundaufnahme inklusive Übersteuerungen und leichter Pegelschwankungen. Doch Wohlklang ist bei diesem lauten, roh brutalem Industrial ja ohnehin nicht die dominante Philosophie gewesen.
Und im im Gegensatz zur "Neu Konservatiw"-Picture Disc, ist "Live In Hell" auch wirklich auf Platte hörbar. Ein paar Knackser um die Trackübergange liegen innerhalb meines Toleranzbereiches.

Insgesamt ist dieses Livealbum in sich stimmig, so wie es ist. Ein gelungenes Zeitdokument aus der brachialen Sturm-und-Drang-Phase von Laibach.

Gesamtnote: Geiler Scheiß!

Highlights: Vojna Poema / Sredi Bojev, Nova Akropola, Die Liebe, Vier Personen

#HdD - silvester baby

Hach damals...


als ich am 31. Dezember 2006 mal mit meinem brandneuen Lensbaby 2.0 beim Krinkberg vorbeischaute.

Genau wie meine DSLR hat das Baby in letzter Zeit ein bisschen Vitrinenkoller bekommen. Deswegen wird es dieses Jahr mal wieder etwas häufiger ausgeführt. (Siehe hier!)







2017-01-10

BETTY DAVIS - The Columbia Years 1968 - 1969

Eine Analyse meiner Musikkritiken ließe es wohl nicht zwingend vermuten, doch würde ich meine Plattensammlung* nach musikhistorischer Relevanz sortieren, dann spielten Rock- oder Metalbands im Kampf um die Spitzenplätze wohl bisher eine erstaunlich kleine Rolle. Ganz vorne lägen eher Kraftwerk, Kate Bush und ein paar Jazz-Meilensteine.


Herausragend unter diesen ist selbstverständlich Miles Davis' Jazz Fusion-Initialzündung "Bitches Brew" von 1970, welche erstmals Rockelemente mit Jazz-Improvisationen verband, und ohne welches u.a. die weiteren Karrieren der beteiligten Musiker Wayne Shorter mit Weather Report und John McLaughlin mit dem Mahavishnu Orchestra nicht vorstellbar wären.

Doch halt, in dem Satz stecken zwei Fehler!

Erstens "erstmals", denn natürlich gab es parallel auch noch andere Künstler, die auf verwandten Pfaden wandelten, und gerade aus der Sphäre der Rockmusik hatten schon einige Alben das Licht der Welt erblickt, die klar machten, dass es mit der strikten Trennung der Genres für immer vorbei war. Als Beispiele seien nur die Progrock-Urväter King Crimson und John Hisemans Blues&Jazzrocker Colosseum genannt. Himmel, selbst das Debüt von Black Sabbath hat ja hörbare Jazzeinflüsse im Schlagzeugspiel.

Zweitens nochmals "erstmals", denn tatsächlich hatte Miles Davis zwar ohne seine Trompete, aber als Arrangeur und Produzent durchaus schon vorher einmal eine ganze Horde von Jazz- und Rockmusikern im Studio versammelt, darunter die späteren "Bitches Brew"-Partner McLaughlin (E-Gitarre), Shorter (Saxophon), Larry Young am E-Piano, sowie Co-Produzent Teo Macero. Außerdem waren u.a. Herbie Hancock und Jimi Hendrix Experience-Drummer Mitch Mitchell mit von der Partie, als es darum ging, die Musik einer Visionärin aufzunehmen, deren Diskographie später ihrerseits unzählige Künstler aus den Bereichen Funk, Soul, Pop, R&B und Hip Hop inspirieren sollte.

1969 ahnte die Plattenindustrie dies allerdings noch nicht und die Aufnahmen dieser Session verschwanden von der Öffentlichkeit ungehört im Archiv, um erst 2016 offiziell das Licht der Musikwelt zu erblicken:

Auftritt Betty Mabry, durch kurzzeitige Ehe bekannt geworden als Betty Davis und "The Columbia Years".   






BETTY DAVIS - The Columbia Years 1968 - 1969 (LP) (2016)

Schon nach dem ersten Hören gibt es keinen Zweifel: Was lange währt, wird endlich gut.

Und als Entschuldigung dafür, dass es eine Weile gedauert hat, ist die Aufmachung dieser LP wirklich edel: Ein Gatefold aus sehr stabiler Pappe, wie mein Plattenregal es bisher vor allem aus dem nicht ganz so funky ausgerichteten Hause Southern Lord Records kennt, dazu ein großformatiges Booklet mit Portraitfotos, sowie Interviews und historischem Schriftverkehr und Verträgen zu den Aufnahmen.




Die Platte selbst ist eine schwere, tadellose Pressung und enthält insgesamt neun Tracks, von denen die meisten der wohl tatsächlich als legendär zu wertenden Davis/Davis-Session von 1969 entstammen.

Und Junge, diese fünf Stücke haben es wirklich in sich! Abgesehen von "Born on the Bayou", welches eher von Hendrix inspiriert klingt, haben wir es hier mit brandheißem Funk zu tun, der sich nicht einmal vor den zeitgenössischen Stücken des Godfather James Brown verstecken braucht. Die Musiker sprudeln vor Spielfreude über und sorgen dafür, dass sich in den Songs trotz ihrer geradlinigen Eingängigkeit immer wieder neue Details entdecken lassen.
Das Wunderbare an dieser Aufarbeitung ist, wie sehr sie die Spontanität und spezielle Chemie der Session unterstreicht. Obwohl es dem Sound an nichts fehlt, wurde nicht im Nachhinein versucht, den Democharakter der Aufnahmen zu vertuschen. Ganz im Gegenteil: Der Mix enthält sogar am Anfang und Ende einiger Tracks den Dialog zwischen Betty Davis und der überlaut aus dem Kontrollraum raspelkratzenden Stimme von Miles.

Dazu wird anhand des fünften Songs "I'm Ready, Willing & Able" eindrucksvoll der kreative Prozess verdeutlicht. Wir hören zunächst Take 1. Die Musiker haben das Lied gerade erst kennengelernt, der Rhythmus ist noch relativ zahm, und nach einer halben Minute unterbricht Betty, um den Aufbau zu erklären. Es folgt direkt der finale Take 9. Das Stück ist nun komplett, der Drive auf einem vollkommen anderen Level, der Funk auf elf. Beeindruckend.

Wenn man solche Dinge dokumentiert, läuft man ja immer Gefahr, ins reine Musik-Nerdtum vorzudringen, bei dem "normale" Musikhörer nur skippen wollen, doch hier ist es tatsächlich kurzweilig und für den Fluss hilfreich, da die spezielle Energie der Session - sowohl zwischen den Instrumentalisten und der Sängerin, als auch zwischen dem frisch verliebten Pärchen Betty und Miles - so einfach großartig transportiert wird.

Warum also wollten die Plattenfirmen damals noch nichts davon wissen?

Die eine gängige Erklärung ist, dass der selbstbewusste und selbstbestimmte sexy und sassy Charakter (sie gilt ja gar als weiblicher Prince before Prince) einer schwarzen Sängerin für die Zeit einfach noch zu früh kam.
Ein anderer Grund könnte allerdings gewesen sein, dass Miles bei der Weiterempfehlung der Aufnahmen einfach nicht enthusiastisch genug gewesen ist, da er insgeheim Angst hatte, dass Betty populärer als er werden  und sie verlassen könnte...
Wahrscheinlich beides. Lange gehalten hat die Ehe jedenfalls nicht.


Drei Tracks bleiben noch auf der LP und entstammen Aufnahmen aus dem Jahr 1968 unter der Regie von Jerry Fuller. Allesamt im damals üblichen Singleformat von zwei bis zweieinhalb Minuten zeigen sie eine noch deutlich poppigere und glattgebügeltere Betty Davis.
Insbesondere die schmalzige Soulballade "Live, Love, Learn" hat mit der Session des Folgejahres wenig gemein. In "It's My Life" und "My Soul Is Tired" steckt anderseits trotz der orchestraleren Produktion schon eine unüberhörbare Portion der kommenden Funk-Queen.

Gut ins Ohr geht auch diese kleine Trilogie. Die Platte wird dadurch exzellent abgerundet.


Ja, ich mag "The Columbia Years" sehr. Sie sind sowohl ein spannender Einblick in ein kleines Stück Musikgeschichte, zum anderen auch ohne das ganze Drumherum einfach funky as fuck.


Der einzige Makel mag die für den Preis recht kurze Spielzeit sein. Aber was soll man machen? Klasse statt Masse eben. Ich habe mir die Platte einfach zum Ausgleich zusammen mit einem gerade sehr günstig angebotenen Jazzklassiker ("Karma" von Pharoah Sanders) gekauft. Dann fühlen sich beide preise normal an und das Problem ist gelöst. Sozusagen.


Fazit zu diesem kleinen, feinen Album: Bettylicious! 


Highlights: I'm Ready Willing & Able, Down Home Girl, Politician Man, It's My Life




* Ok, ich rede natürlich nicht von meiner gesamten Musiksammlung, sondern nur von dem relativ jungen Teil aus Vinyl. Doch auch wenn ich die Gesamtheit betrachte, büßen die genannten Künstler und Alben trotz Nachbarschaft zu den Klassikern, die ich nur auf CD besitze, natürlich nichts an Relevanz ein.