Mit Sigmund Freud kenne ich mich ja nicht so super aus. Und so war ich tatsächlich Ich-lese-zum-ersten-Mal-die-Texte-von-Avatariums-neuem-Album Jahre alt, als ich die deutsche Vokabel "Nachträglichkeit" lernte. (Möglicherweise kannte ich sie auch schon einmal, habe sie aber zwischenzeitlich wieder vergessen.)
Reim dich oder ich schlag dich ist Jennie-Ann Smiths poetischer Imperativ, womit die Schwedin erfahrungsgemäß auch gut fährt. Berücksichtigt man zusätzlich noch, dass sie einen beruflichen Hintergrund als psychosoziale Beraterin hat, überrascht es bereits weniger, dass sie inmitten sprachlich sehr klar gehaltener englischer Texte auf einmal diesen Fachterminus als Reim auf "black and white" raushaut.
Und was habe ich durch "Between You, God, The Devil and The Dead" sonst noch gelernt?
Ich weiß gar nicht woran es lag, vielleicht war es die vergleichsweise geringe sozialmediale Reichweite des Labels AFM Records, vielleicht hatte ich 2022 nur die ein, zwei mir tatsächlich etwas zu süßlichen Songs von "Death, Where Is Your Sting" gehört und die Beschäftigung mit dem insgesamt durchaus lohnenswerten Album auf irgendwann später verschoben.
Wie auch immer, nun habe ich mir beide Alben gleichzeitig zugelegt - eines als 2CD-Earbook, dieses auf silbernem Vinyl mit Textblatt, signiertem Fotokärtchen und schickem, aber schwer abbildbarem, weil stark reflektierendem Stanzcover. Sehr schön!
Musikalisch ist festzustellen, dass es zwar durchaus balladeskes Material gibt, diesmal aber das kritische Maß an Kitsch nicht überschritten wird. Tatsächlich sind z.B. "Lovers Give A Kingdom To Each Other" und der Titeltrack sogar echte Highlights einer Sammlung von acht Stücken ohne Ausfälle. Avatarium spielen alle ihre Stärken aus - und das sind eine ganze Menge.
Wie gewohnt lässt sich die Band stilistisch leicht in der Mitte des schwedischen Dreiecks aus Lucifer, Blues Pills und Candlemass verorten. Das ist sicherlich kein vollständiger Vergleich, deckt im Prinzip aber sicherlich achtzig Prozent der Musik ab. Für Lucifer gibt es mit dem flott rockenden "I See You Better In The Dark" sogar einen sehr eindeutigen Referenzsong, während der klassische stampfende Doom Metal vor allem in "Being With The Dead", gekrönt von einem feinen heavy Orgelsolo, oder auch dem längsten, nachträglichen Track "Until Forever And Again" zelebriert wird. Und die bluesige, sich zuweilen sogar emotional zum Soul steigernde Note zieht sich in Smiths unverkennbarem Gesang, der nur im Instrumentalstück "Notes From Underground" pausiert, natürlich durch das gesamte Album.
Avatarium haben sich aus zutiefst vertrauten traditionellen Rocksounds einen frischen, ihnen ureigenen Sound zusammengestellt, und von dieser etablierten Formel wird auf "Between You, God, The Devil and The Dead" nicht abgewichen. Diese Band weiß, dass sie sich nicht neu erfinden muss, reizt ihre bekannten Parameter aber voll aus, dehnt sie vielleicht sogar hier und da, und setzt - simpel gesagt, aber nicht selbstverständlich umzusetzen - einfach auf durchgehend erstklassige Qualität.
Das Songwriting, die majestätisch großen Melodien, das perfekte Aufeinandertreffen von überraschend grober, schwerer Gitarre mit sehnsuchtsvollem Klavier und epochalen Gefühlen in düsterer Musik und charismatischem Gesang... die Schweden liefern all dies auf selbst für ihre Verhältnisse beachtlichem Niveau. Ob man dies nun insgesamt noch den Wurzeln der Band enstsprechend als Doom Metal kategorisiert oder die Schublade zeitloser Hard Rock aufmacht, ist da letztendlich vollkommen nebensächlich. Was zählt ist, dass die Band auf ihrem sechsten Longplayer kein Zeichen von kreativer Erschöpfung zeigt - ganz im Gegenteil!
Vor allem bewirkt das Album, dass ich Avatarium unbedingt mal wieder live sehen möchte. Es ist schon viel zu lange her...
Bleibt nur noch eine Frage zu klären: Was bedeutet "Nachträglichkeit" denn nun? Hier wird es sehr aufschlussreich erklärt!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen