Huch, es ist ja schon wieder mitten im Oktober! Bald spielen die Swans in Hamburg. Zeit also, vorher noch ein Review zu schreiben, das ich eigentlich schon lange verfasst haben wollte, dann aber aus zu großer Ehrfurcht vor dem Werk doch stets verschoben habe.
Ist der zweistündige Brocken "To Be Kind" nach viereinhalb Monaten handlicher, fassbarer geworden? - Kaum.
Ok, schon ein bisschen.
Ok, schon ein bisschen.
SWANS - To Be Kind (2CD) (2014)
Es ist natürlich nicht so, dass Michael Gira mich mit diesem Album vollkommen überrascht hätte. Schließlich bin ich ja mit Schaffen der Post-Reunions-Swans vetraut, habe die Band 2012 live gesehen und das ebenfalls schon zweistündige, maximalmonolithische Vorgängerwerk "The Seer" hier besprochen.
Ja, mehr noch als das: frühere Live- und Demoversionen der Stücke von "To Be Kind" waren mir bereits durch die Crowdfunding-Belohnung "Not Here / Not Now" geläufig.
Seit jener Momentaufnahme haben sich die Kompositionen allerdings noch um viele Schritte weiterentwickelt und präsentieren sich nun wesentlich dynamischer und detailreicher.
Wo Zeremonienmeister Gira live vor allem auf die überwältigende körperliche Erfahrung setzt, finden die Studioversionen der Stücke nun mehr Platz für Zwischentöne. Tatsächlich beginnt das Album mit dem hypnotisch groovenden "Screen Shot" im mittleren Bereich der Intensitätsskala. Von Anfang an herrscht Spannung, doch erst im letzten Viertel des Achtminüters zerbricht die Oberfläche und das infernalische Tier erhebt erstmals sein Haupt.
Das ist überhaupt ein Bild, welches auf große Teile von "To Be Kind" zutrifft: Eigentlich ist die Musik ruhig, einfach, zugänglich, doch darunter schlummert ein launisches kakophonisches Monster, welches jederzeit unerwartet herausbrechen kann, ganz so wie ein zufrieden schlummerndes oder glucksendes Baby ganz unvermittelt zum brüllenden Berserker mutieren kann. Womit ich auch schon eine mögliche Interpretation für das wieder einmal sehr gelungene Cover zur Hand hätte.
Gleich der zweite Song "Just A Little Boy" ist eine der deutlichsten Manifestationen dieses Bildes. Fragt man den Bassisten, so möchte das Lied eigentlich nur ein über zwölf Minuten langer, fast schon entspannter Blues sein. Doch immer wieder quängelt das Monster aus Michael Gira heraus, er schreit "I'm just a little boy!", "I'm not human!", es folgen ihm schallendes Gelächter und brodelnder Gitarrenkrach. Die Lärmattacke zerfällt, der Bass bleibt unbeeindruckt, das Spiel beginnt von vorn... Was sonst eher live ersichtlich ist, nämlich Giras Rolle als Zeichen gebender, alles dirigierender James Brown der Gruppe, führt dieser Track auch sehr deutlich in der Studiovartiante vor.
"A Little God In My Hands" beginnt im Prinzip ähnlich, wobei die Grundlage hier eher so etwas wie die maximal reduzierte Version eines Funk-Licks ist, über die sich Schicht für Schicht immer mehr Instrumente und Gesang auftürmen, ehe das mit sieben Minuten zweitkürzeste Stück des Albums in der Swans-Entsprechung eines Hupkonzertes untergeht.
Jetzt aber geht es erst richtig los! Der Doppelschlag "Bring The Sun / Toussaint L'ouverture" ist für dieses Album das, was für "The Seer" der Titelsong war. Das epische Ungetüm von vierunddreißig Minuten wirft die gesamte Brachialität, aber auch Erhabenheit der Swans in den Ring.
Gestern habe ich dieses Stück im Auto gehört, als in Heide gerade ein mit Blitz und Hagel wütendes Unwetter geherrscht hatte und der Himmel immer noch düster war. Als ich auf der A23 nach Hause fuhr, klarte es auf und die Sonne spannte den epochalsten Regenbogen, den ich seit sehr sehr langer Zeit gesehen hatte über einen Windpark... ein absolut beeindruckendes Schauspiel. Und dazu singt der Schwanenchor zu einem wahnsinnigen musikalischen Crescendo immer wieder "SUUUUUUUUUN... Bring the sun!" - Mehr kann Musik nicht!
In diesem Herzstück der ersten CD ist alles auf elf gedreht; das Brutale, das Glorreiche, das Exzessive. Der Text wird - nicht nur hier auf dem Album - zweitrangig, wenn Gira im Rausch ist, dann wird er zum besessenen Schamenen, schreit, RRRRRRRRRRrollt das RRRRRR und bellt wie ein tollwütiges Tier.
Danach darf man mit dem ruhigen "Some Things We Do", einem Song der auch aus der "Ende Neu"-Phase der Einstürzenden Neubauten stammen könnte, wieder ein wenig runterkommen.
Und das war erst Teil 1 des Albums. Die zweite CD hält das Niveau, und ich könnte auch hier wieder auf jedes Stück einzeln eingehen. Doch das spare ich mir mal. Auch hier hat jeder Track seinen grundeigenen Charakter und seine ganz großen Momente. Besonders auffallen beim ersten Hören dürfte das perkussiv sehr harte und für Swans-Verhältnisse ungewöhnlich schnelle "Oxygen".
Auch was Instrumentierung, Gastsängerinnen, Texte, die Aufmachung der handsignierten Special Edition uvm. angeht könnte ich hier noch viele Zeilen füllen, aber ich glaube man merkt auch so schon, dass ich einigermaßen angetan bin.
Der Sound dieses Doppelalbums ist extrem lebendig und druckvoll und obwohl sich aus den zahlreichen Saiteninstrumenten, den Drums, Percussions, Bläser usw. gewaltige Klangmassen aus den Boxen schieben, doch noch erstaunlich differenziert.
Ist man mit den Swans bisher noch wenig in Berührung gekommen, so ist es sicherlich viel wert, dass man anfangs erst stufenweise weichgekloppt und für die ganz großen Kaskaden vorbereitet wird. In dieser Hinsicht überfällt einen "To Be Kind" weitaus weniger als das Vorgängeralbum "The Seer".
Natürlich bleibt dies aber nach wie vor Musik, die sehr viel Aufmerksamkeit und Zeit vom Hörer abfordert. Doch war "The Seer" eher eine Collage der Extreme, so ist das aktuelle Werk schon songbasierter und somit zugänglicher, ohne dadurch im Vergleich merklich an monolithischer Größe einzubüßen.
Tatsächlich überstrahlt "To Be Kind" fast alles, was sonst in diesem (von meiner Warte aus fantastischen) Musikjahr erschienen ist.
Natürlich kann man einige Alben überhaupt nicht hiermit vergleichen, und tatsächlich gibt es auch Veröffentlichungen, welche den Swans in Einzelkategorien das Wasser reichen mögen. Doch in seiner Gesamtheit, mit seinen zwei Stunden Spielzeit, von denen keine einzige Minute langweilig oder verschwendet ist, von seinen feinfühligsten bis infernalischen Szenen, mit der vehementen Leidenschaft, in der es die Grenzen dessen, zu was Rockmusik fähig ist, herausfordert, ist an "To Be Kind" kein Vorbeikommen.
Erlaubt Dir deine Religion nur, höchstens ein Musikalbum pro Jahr zu kaufen, dann muss muss muss es dieses sein! (Und Du solltest schnell aus jener bekloppten Sekte austeigen...)
Michael Gira ist einer der größten Musiker der Gegenwart und "To Be Kind" ein perfektes Album ohne das geringste Härchen in der Suppe. Meine Fresse, was hab ich schon Bock auf die Tour!
Ja, mehr noch als das: frühere Live- und Demoversionen der Stücke von "To Be Kind" waren mir bereits durch die Crowdfunding-Belohnung "Not Here / Not Now" geläufig.
Seit jener Momentaufnahme haben sich die Kompositionen allerdings noch um viele Schritte weiterentwickelt und präsentieren sich nun wesentlich dynamischer und detailreicher.
Wo Zeremonienmeister Gira live vor allem auf die überwältigende körperliche Erfahrung setzt, finden die Studioversionen der Stücke nun mehr Platz für Zwischentöne. Tatsächlich beginnt das Album mit dem hypnotisch groovenden "Screen Shot" im mittleren Bereich der Intensitätsskala. Von Anfang an herrscht Spannung, doch erst im letzten Viertel des Achtminüters zerbricht die Oberfläche und das infernalische Tier erhebt erstmals sein Haupt.
Das ist überhaupt ein Bild, welches auf große Teile von "To Be Kind" zutrifft: Eigentlich ist die Musik ruhig, einfach, zugänglich, doch darunter schlummert ein launisches kakophonisches Monster, welches jederzeit unerwartet herausbrechen kann, ganz so wie ein zufrieden schlummerndes oder glucksendes Baby ganz unvermittelt zum brüllenden Berserker mutieren kann. Womit ich auch schon eine mögliche Interpretation für das wieder einmal sehr gelungene Cover zur Hand hätte.
Gleich der zweite Song "Just A Little Boy" ist eine der deutlichsten Manifestationen dieses Bildes. Fragt man den Bassisten, so möchte das Lied eigentlich nur ein über zwölf Minuten langer, fast schon entspannter Blues sein. Doch immer wieder quängelt das Monster aus Michael Gira heraus, er schreit "I'm just a little boy!", "I'm not human!", es folgen ihm schallendes Gelächter und brodelnder Gitarrenkrach. Die Lärmattacke zerfällt, der Bass bleibt unbeeindruckt, das Spiel beginnt von vorn... Was sonst eher live ersichtlich ist, nämlich Giras Rolle als Zeichen gebender, alles dirigierender James Brown der Gruppe, führt dieser Track auch sehr deutlich in der Studiovartiante vor.
"A Little God In My Hands" beginnt im Prinzip ähnlich, wobei die Grundlage hier eher so etwas wie die maximal reduzierte Version eines Funk-Licks ist, über die sich Schicht für Schicht immer mehr Instrumente und Gesang auftürmen, ehe das mit sieben Minuten zweitkürzeste Stück des Albums in der Swans-Entsprechung eines Hupkonzertes untergeht.
Jetzt aber geht es erst richtig los! Der Doppelschlag "Bring The Sun / Toussaint L'ouverture" ist für dieses Album das, was für "The Seer" der Titelsong war. Das epische Ungetüm von vierunddreißig Minuten wirft die gesamte Brachialität, aber auch Erhabenheit der Swans in den Ring.
Gestern habe ich dieses Stück im Auto gehört, als in Heide gerade ein mit Blitz und Hagel wütendes Unwetter geherrscht hatte und der Himmel immer noch düster war. Als ich auf der A23 nach Hause fuhr, klarte es auf und die Sonne spannte den epochalsten Regenbogen, den ich seit sehr sehr langer Zeit gesehen hatte über einen Windpark... ein absolut beeindruckendes Schauspiel. Und dazu singt der Schwanenchor zu einem wahnsinnigen musikalischen Crescendo immer wieder "SUUUUUUUUUN... Bring the sun!" - Mehr kann Musik nicht!
In diesem Herzstück der ersten CD ist alles auf elf gedreht; das Brutale, das Glorreiche, das Exzessive. Der Text wird - nicht nur hier auf dem Album - zweitrangig, wenn Gira im Rausch ist, dann wird er zum besessenen Schamenen, schreit, RRRRRRRRRRrollt das RRRRRR und bellt wie ein tollwütiges Tier.
Danach darf man mit dem ruhigen "Some Things We Do", einem Song der auch aus der "Ende Neu"-Phase der Einstürzenden Neubauten stammen könnte, wieder ein wenig runterkommen.
Und das war erst Teil 1 des Albums. Die zweite CD hält das Niveau, und ich könnte auch hier wieder auf jedes Stück einzeln eingehen. Doch das spare ich mir mal. Auch hier hat jeder Track seinen grundeigenen Charakter und seine ganz großen Momente. Besonders auffallen beim ersten Hören dürfte das perkussiv sehr harte und für Swans-Verhältnisse ungewöhnlich schnelle "Oxygen".
Auch was Instrumentierung, Gastsängerinnen, Texte, die Aufmachung der handsignierten Special Edition uvm. angeht könnte ich hier noch viele Zeilen füllen, aber ich glaube man merkt auch so schon, dass ich einigermaßen angetan bin.
Der Sound dieses Doppelalbums ist extrem lebendig und druckvoll und obwohl sich aus den zahlreichen Saiteninstrumenten, den Drums, Percussions, Bläser usw. gewaltige Klangmassen aus den Boxen schieben, doch noch erstaunlich differenziert.
Ist man mit den Swans bisher noch wenig in Berührung gekommen, so ist es sicherlich viel wert, dass man anfangs erst stufenweise weichgekloppt und für die ganz großen Kaskaden vorbereitet wird. In dieser Hinsicht überfällt einen "To Be Kind" weitaus weniger als das Vorgängeralbum "The Seer".
Natürlich bleibt dies aber nach wie vor Musik, die sehr viel Aufmerksamkeit und Zeit vom Hörer abfordert. Doch war "The Seer" eher eine Collage der Extreme, so ist das aktuelle Werk schon songbasierter und somit zugänglicher, ohne dadurch im Vergleich merklich an monolithischer Größe einzubüßen.
Tatsächlich überstrahlt "To Be Kind" fast alles, was sonst in diesem (von meiner Warte aus fantastischen) Musikjahr erschienen ist.
Natürlich kann man einige Alben überhaupt nicht hiermit vergleichen, und tatsächlich gibt es auch Veröffentlichungen, welche den Swans in Einzelkategorien das Wasser reichen mögen. Doch in seiner Gesamtheit, mit seinen zwei Stunden Spielzeit, von denen keine einzige Minute langweilig oder verschwendet ist, von seinen feinfühligsten bis infernalischen Szenen, mit der vehementen Leidenschaft, in der es die Grenzen dessen, zu was Rockmusik fähig ist, herausfordert, ist an "To Be Kind" kein Vorbeikommen.
Erlaubt Dir deine Religion nur, höchstens ein Musikalbum pro Jahr zu kaufen, dann muss muss muss es dieses sein! (Und Du solltest schnell aus jener bekloppten Sekte austeigen...)
Michael Gira ist einer der größten Musiker der Gegenwart und "To Be Kind" ein perfektes Album ohne das geringste Härchen in der Suppe. Meine Fresse, was hab ich schon Bock auf die Tour!
Anspieltipps: Screen Shot, Bring The Sun/Toussaint L'Ouverture, Oxygen, She Loves Us, A Little God In My Hands, To Be Kind
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