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2015-04-03

BJÖRK - Vulnicura

Alle zehn Minuten wechselt auf meinem Windows-Desktop das Hintergrundbild und es kommt ein neues Motiv, vorwiegend aus den Bereichen Simpsons und Futurama, aber auch aus weiteren Fernsehserien, Kinofilmen oder der Welt der Musik.
Als ich mir gerade die neue LP von Björk auf den Tisch legte, sprang der Hintergrund auf ein zugegeben ziemlich leckeres, sideboobiges Portrait der Isländerin in ihrem legendären Schwanenkleid um.

Jenes Bild stammt aus dem Jahr 2001 und man muss anerkennen, dass sich die zierliche Isländerin fantastisch gehalten hat. Und um eine relevantere Brücke zur Gegenwart zu schlagen: Jenes Kleid wurde zwar durch seine banausige Rezeption während der Oscars berühmt, hängt jedoch mit ihrem damals aktuellen Album "Vespertine" zusammen, welches nicht nur ein Schnee/Eis/Winter-Album war, sondern ebenso ein lyrisch z.T. sehr grafisches, persönliches Werk über Björks Liebesleben, genauer gesagt über den Beginn genau jener langen Beziehung, deren Zusammenbruch sie nun auf "Vulnicura" zum Thema gemacht hat.




BJÖRK - Vulnicura (2LP) (2015)

Ja, ich bin spät dran. Durch das Leak und die daraufhin pragmatisch vorgezogene Veröffentlichung der digitalen Version ist "Vulnicura" wohl das Album mit den meisten Reviews, die geschrieben wurden, ohne dass irgendein Verfasser einen physischen Tonträger in der Hand gehalten hat.

Ok, dank Vorbestellung beim Online-Tante-Emma-Laden mit dem kleinen a am Anfang standen mir die mp3s auch schon eine Weile zur Verfügung. Aber bei momentan ohnehin stetigem Zulauf in meiner Musiksammlung und angesichts der Tatsache, dass Björk-Alben nach dem erwähnten "Vespertine" zumeist doch eher schwerere Kost sind, hatte ich die intensivere Beschäftigung mit "Vulnicura" zunächst einmal vertagt bis ich ich das Ding anfassen und auf den Plattenteller legen konnte.

Das dauerte eine Weile, denn das ohnehin erst deutlich nach der CD-Version veröffentlichte Doppel-Vinyl verzögerte sich dann nochmal um zwei Wochen... 

Doch das Warten auf diese schöne Ausgabe hat sich gelohnt.
Klar, die enge teiltransparente Plastikhülle wird wohl nicht ewig halten, doch wenn sich aus ihrer toten abgelegten Hülle mit vulvaesker Brustwunde Björks neues Ich herausschmetterlingt, ist das schon ein schönes und inhaltlich passendes Bild.

Meine Fotos zeigen den Vorgang leider aus physikalischen Zwängen verkehrt herum, aber ich möchte ja auch nicht das komplette Erlebnis spoilern:




Die Optik stimmt also. Und der musikalische Inhalt?

Es soll ja Leser geben, die nach ein paar Seiten des ersten Kapitels entscheiden, ob ihnen der Hauptcharakter sympathisch ist, und die dann ganz am Ende spicken, um sicherzugehen, dass er auch ja nicht stirbt.
Wer so an "Vulnicura" herangeht, sich also zunächst nur den Opener "Stonemilker" und das Ende "Quicksand" anhört, der könnte den Eindruck gewinnen, dass Björk wieder ganz bei ihrem Klassiker "Homogenic" mit seinen elektronischen Beats, großen Streichern und noch größeren Gefühlen angekommen ist. Und erinnert der in "Stonemilker" langsilbig und theatralisch eingeforderte "emooootional respect" nicht auch sehr an die "emooootional landscapes" in "Joga"?

Tatsächlich bleibt "Homogenic" zwar auch dazwischen die naheliegendste Referenz in Björks Diskographie, doch dieses Ding wird dabei doch deutlich düsterer und schwerverdaulicher.

"Vulnicura" ist ein chronologisch aufgebautes Trennungsalbum in drei Akten, welche sich kurz mit davor, danach und später beschreiben lassen.

Tatsächlich sind zu den Songs des ersten und zweiten Drittels sogar Zeitangaben wie "5 months before" oder "2 months after" angegeben.

In den ersten drei Stücken geht es um die Vorahnung bis Gewissheit der bevorstehenden Trennung, textlich besonders eindrucksvoll umgesetzt in "History Of Touches". Hier beschreibt Björk nur einen gemeinsamen Moment nachts im Bett, und wie in diesem alle Gefühle, Berührungen und "every single fuck we had together" (was im Zusammenhang überhaupt nicht vulgär wirkt) präsent sind, ebenso wie die Gewissheit, dass dies das letzte Mal sein wird.

Björks Texte sind auf dem gesamten Album eine erstaunlich gut funktionierende Mischung aus leidverliebten poetischen Bildern und sehr trockener, analytischer Sachlichkeit.

Das Herz der Finsternis erreicht sie, als sie im über zehn Minuten langen, im Aufbau an "The Dull Flame Of Desire" von "Volta" erinnernden Kernstück des Albums ausgiebig im "Black Lake" badet.

Danach gehen ihre Gedanken in "Family" zu den Folgen, die die Trennung für die gemeinsame Tochter hat. "Is there a place where I can pay respects to the death of my family?"

In den meisten meiner Reviews schenke ich den Texten ja eher sekundäre Aufmerksamkeit.
Bei "Vulnicura" ist dies nicht möglich, da der Inhalt absolut zentralen Charakter hat, dem sich auch die Musik vollständig beugt.
Björk singt nicht Texte auf vorher kreierten Beats und Melodien, oder wann ein Strophe-Refrain-Schema dies verlangt, sondern erzählt ihr Geschichte ganau so, wie sie es für richtig hält - und die gesamte Musik unterwirft sich ihrem lyrischen Diktat.

Das ist Gift für auf Viervierteltakt geeichte Radiohörer, aber Gold für Musikfreunde, die sich zwischendurch auch mal mit großer Klangkunst herausfordern lassen.

Das letzte Drittel von "Vulnicura", welches sich mit der Überwindung der Trennung, den Lehren und dem möglichen Gewinn daraus beschäftigt, beinhaltet wohl die - zumindest für Fans - am leichtesten zugänglichen Stücke. Die Komfortzone für Freunde der beschwingteren, leichtherzigeren und rhythmuslastigeren Björk sozusagen.

Passend dazu kommt es im ausschweifenden "Atom Dance" dann auch zum Wiederhören mit einem alten Bekannten, bzw. einer alten Bekannten, nämlich der schon auf "Volta" gastierenden Transgender-Sängerin Antony, deren zweifellos einzigartige Stimme mir solo ja zu exzentrisch merkwürdig wäre, im Zusammenspiel mit Björk jedoch immer sehr gut funktioniert.

In "Mouth Mantra" und "Quicksand" darf es zu den Streichern dann noch ordentlich brummen, blubbern und breakbeaten, so dass man mit doch eher hoffnungsvoll positiver Grundstimmung aus der teilweise wirklich sehr dunklen emotionalen Reise, welche "Vulnicura" ist, entlassen wird.

Nein, "Vulnicura" ist mit Sicherheit kein Album, mit dem ich mich ständig im Auto und Alltag berieseln werde. Dafür erfordert es einfach zu viel Aufmerksamkeit und Empathie.

Es ist zwar konzeptionell wesentlich geradliniger und einfacher zu erfassen als der extrem verkopfte Vorgänger "Biophilia", den ich mir eigentlich erst mit der Liveversion einigermaßen erschlossen habe, aber dennoch kein Album, welches zwingermaßen schon beim ersten Eindruck voll zündet.

Es ist jedoch ein ganz großes, reifes Konzeptwerk, welches definitiv bei mehrmaligem Hören wächst und immer weitere Facetten von sich freilegt.

Für mich das beste Break-Up-Album seit "Black Umbrella" von Thought Industry.

Große Kunst!



Anspieltipps: Stonemilker, Atom Dance, Black Lake, Mouth Mantra


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