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2015-09-21

CHELSEA WOLFE - Abyss

"Graue Tage", "Aasblumen", "Der Abgrund", "Schlund", "Schlichter Tod".

Nein, wer nach beschwingter Sommermusik zum Cocktailschlürfen sucht, ist bei Chelsea Wolfe immer noch nicht richtig.


CHELSEA WOLFE - Abyss (Opaque Baby Blue 2LP) (2015)

Jeder kennt sie, diese neblige Phase zwischen Schlaf und Erwachen, in der die Träume oft besonders fieberhaft und bekloppt sind. Ein Zustand, in dem es besser ist, wenn der Wecker einen erlöst und man ihm gehorcht, da der Schlaf ohnehin keine Erholung mehr bringt.
Und vielleicht kann der eine oder andere sich auch an diesen einen Traum erinnern, der sich so ganz anders, so unglaublich real anfühlte, dass man fast glaubte, ihn greifen zu können.


Ich selbst kann schon ein paar originelle Traumerfahrungen für mich verbuchen, auch wenn ich mich sehr selten nach dem Aufwachen an etwas konkretes erinnere. Ein paar außergewöhnlich real wirkende Erfahrungen sind hängen geblieben, ebenso weiß ich bis auf einen Blackout direkt vor Schluss auch noch genau, wie jener Alptraum aussah, aus dem ich mit dem gefühlt stärksten Herzrasen hochgeschossen bin.
Was ich anscheinend häufiger erlebe, sind komplexe, sich wiederholende Geschichten, bei denen ich von oben herab als Deus Ex Machina entscheide, dass sie ab einem bestimmten Punkt anders weitergehen sollen, da ich die andere Variante schon hatte.
Und dann war da noch dieser eine sehr amüsante Klartraum, in dem ich Klugscheißer vor den anderen Personen in meinem Traum damit angegeben habe, dass ich wusste, dass sie gar nicht echt sind und es an einem Computerbildschirm beweisen konnte, da dessen komplette Darstellung meinem Gehirn zu komplex war, weshalb er beim Versuch, ihn zu lesen, unscharf wurde.

Worauf ich hinaus will? Mein Unterbewusstsein hat nachts schon genügend Blödsinn angestellt, dass ich mir einbilde, zumindest eine vage Vorstellung davon zu haben, wie sich ein sogenannter "Wachanfall" anfühlen muss, wenn der Verstand schon wach ist, der Körper sich jedoch noch in Schlafparalyse befindet und sich nicht bewegen lässt.

Das Gehirn erkennt, dass man absolut hilflos ist, und gerade diese Schutzlosigkeit beschwört dann innerhalb der echten, schon bei vollem Wach- und Bewusstsein wahrgenommenen Umgebung ebenso vollkommen reale Dämonen herauf, denen man ohne Aussicht auf Entkommen ausgeliefert ist. In einem gewöhnlichen Alptraum könnte man einfach durch Aufwachen vor ihnen fliehen, da man jedoch geistig bereits wach ist, funktioniert dies nicht...

Nun stelle man sich mal weiter vor, dass man diese oder eine ähnlich furchtbare Erfahrung ein erstes Mal gemacht hat, davon vollkommen erschrocken und beeindruckt ist, und sie beim Essen der Familie erzählt.
Und dann sagt deine kleine Tochter: "Mir passiert das jede Nacht."

Willkommen im Elternhaus von Chelsea Wolfe.



Bei ihren Begegnungen mit den "Schattenkreaturen" war die Sängerin und Songschreiberin allerdings nicht gelähmt, sondern bereits bewegungsfähig. Das führte dann allerdings auch mal dazu, dass sie zu ihrer Verteidigung mit einem Messer herumfuchtelte.

Inzwischen sind diese Nächte seltener geworden, doch es ist wohl unbestreitbar, dass die Finsternis in Chelsea Wolfes Musik mehr als eine Pose ist und genau hier ihren Ursprung hat.

"Abyss" ist zwar kein autobiographisches Album, verarbeitet jedoch erstmals diese Erfahrungen, greift aber auch auf Quellen wie den Psychiater Carl Gustav Jung oder suizidale Gedichte chinesischer Arbeiter zurück. Insgesamt entsteht so eine bedrohliches Schweben in der Ungewissheit zwischen Traum und Wirklichkeit, Liebe und Angst, Leben und Tod.

Lyrisch und konzeptionell ist "Abyss" schon losgelöst von der Musik große Kunst, die eindringliche Worte für Unaussprechliches findet.

Auch das Covergemälde fängt Thema und Stimmung perfekt ein.


Und die Musik?

Nachdem das letzte Album "Pain Is Beauty" ja sehr elekronisch verspielt und manchmal auch gezielt zerfasert daherkam, wäre eine Option gewesen, sich wieder zu den düsteren Gothic/Neofolk-Wurzeln zurückzubewegen.

Auf ihrem zweiten Album "Apokalypsis" von 2011 vermengten sich diese bereits mit einer Prise Horror-Soundtrack und Drone zu einem gleichzeitig wunderschönen und verstörend finsteren Werk, welches mit kaum etwas anderem in der Musiklandschaft zu vergleichen ist.

Die Charakteristika dieser beiden Alben finden sich mal mehr, mal weniger deutlich auch auf "Abyss". Der Hauptfokus von Chelsea Wolfe und ihrem multiinstrumentalen Haupt-Kompositionspartner Ben Chisholm, der auch schon mit King Dude zusammengearbeitet hat, liegt allerdings in einem diesmal besonders ausgeprägten Metal- bzw. Noise-Einschlag.

Zu großen Teilen ist "Abyss" ein brachiales Gitarrenalbum, dessen rhythmische Basis zwischen harten Programmierungen und echten Instrumenten wechselt. An der Riff- und Krachgewalt beteiligt ist auch Mike Sullivan von den Postrock-Metallern Russian Circles, was sich deutlich hörbar niederschlägt.

Es kommen noch einige weitere Instrumente zum Einsatz und auch Chelsea Wolfe selbst greift natürlich u.a. in die Gitarrensaiten, doch besonders prägend für das gesamte Album ist das Bratschen-Spiel Ezra Buchlas, von dem Wolfe sagt, es klinge wie ihre Seele


"Abyss" ist wahrscheinlich Chelsea Wolfes direktestes und konkretestes Werk geworden. Ihre ätherisch-geisterhafte Stimme ist in weniger Hall getaucht als zuletzt, was die Texte verständlicher und wirkungsvoller macht.

Vom folkig reduzierten "Crazy Love" über den geisterhaft schrägen Titelsong, das fast schon hymnische "Iron Moon", die endlose Verzweiflung in "Dragged Out" oder "After The Fall", das teilweise klingt wie ein mit den bedrohlichen Sounds aus Kraftwerks "Trans-Europa-Express" zusammengesampelter, düsterer Björk-Track, passieren innerhalb des homogenen Konzepts auf "Abyss" doch sehr viele unterschiedliche Dinge.

Das Meisterstück "Maw" könnte ich alleine schon in Dauerschleife hören, doch alle Songs sind ähnlich stark.

Chelsea Wolfe schwebt mit uns über dem Abgrund. Und wenn sie sich hinabstürzt, zieht sie uns unwillkürlich mit hinab. Ist dieser Mahlstrom Alptraum oder Wirklichkeit? Vielleicht beides? Und hat uns jemals jemand gesagt, dass wir leben? Es ist seltsam schön dort unten bei den Schattenwesen.

Keine Frage: "Abyss" ist ein Meisterwerk.

Und das Ticket fürs Konzert am 2. November im Knust ist auch schon gebucht.



Anspieltipps: Maw, Simple Death, Iron Moon, After The Fall, Crazy Love

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