Jazz.
Es ist ja nicht so, dass ich überhaupt gar keinen Plan von Jazz hätte, zumal ich meine Musiksammlung gerade im Fusion-Bereich in den letzten Jahren immer wieder ausgebaut habe.
Aber auch wenn meine Kenntnisse fünfmal so groß wären, würde ich analytisch an diesem Koloss von einem Album wohl immer noch scheitern.
Fast drei Stunden musikalischer Overload auf 3 LPs, eine Kernband, die z.T. neben Bläsern, Keyboards, Piano mit gleich zwei Drummern und zwei Bassisten antritt, dazu bei vielen Stücken noch Chor und Streicherensemble obendrauf. Nein, hier backt jemand keine kleinen Brötchen.
Kamasi Washingtons "The Epic" ist ein Koloss von einem Album, ein künstlerisch kompromissloser, ambitionierter Ultralativ.
Puuhh... Ich versuche mich mal an einer Annäherung:
KAMASI WASHINGTON - The Epic (3LP) (2015)
Auch wenn sich Kamasi Washington auf dem Cover wie eine übernatürliche Macht inszeniert, die aus dem All angereist ist, um diese Welt mit seinem Saxophon zu unterjochen, entsteht ein Klotz wie "The Epic" natürlich nicht im luftleeren Raum.
Aus einer musikalisch vorbelasteten Familie stammend (sein Vater hat ihn ja sogar als musikalischer Special Guest - und als Merchandise-Verkäufer - auf seiner ersten internationalen Tour begleitet) entpuppte sich Kamasi bald als Saxophon-Wunderkind, studierte an einer Musikakademie und startete sogleich mit einem Engagement in der Liveband von Snoop Dogg ins nicht wirklich jazzige, aber immerhin sehr große Showgeschäft.
Es folgten zahlreiche Zusammenarbeiten - nicht nur als Saxophonist, sondern auch als Komponist und daraus folgend Tourkeyboarder - mit Hip-Hop-Größen wie Nas und Lauryn Hill, aber auch mit Jazz- und Soul-Legenden wie George Duke, Wayne Shorter, Herbie Hancock und Chaka Khan.
Viel bei der Veröffentlichung von "The Epic" hilfreiche Aufmerksamkeit haben ihm seine Gastspiele auf dem vollkommen schrägen Jazz/Funk/Elektro/HipHop/Allesmögliche-Album "You're Dead" von
Flying Lotus (2014) und dem ähnlich breit aufgestellten, wahrscheinlich bestem US-Rapalbum dieses Jahres, "To Pimp A Butterfly" von
Kendrick Lamar eingebracht.
Der entscheidene Faktor ist allerdings seine den Kern des Albums bildende Band
The Next Step, welche komplett aus Kindheitsfreunden besteht, die gemäß kosmischer Bestimmung allesamt zu fantastischen, eigensinnigen Jazzmusikern gereift sind.
Man braucht nur ein paar Namen herauspicken, wie z.B. die beiden Bassisten
Miles Mosley und
Stephen Bruner (aka
Thundercat) oder dessen schlagzeugender Bruder
Ronald Bruner Jr., um auf eine ganze Reihe ähnlich umfangreicher Gastspiele von
Erykah Badu bis
Suicidal Tendencies und auch ein paar Solokarrieren zu stoßen.
In all diesen Aktivitäten trafen viele der Musiker aus diesem Kreis immer wieder aufeinander,
Kamasi und die
Bruner-Brüder veröffentlichten Alben als
Young Jazz Giants, und ohnehin traf man sich trotz aller Ablenkungen immer wieder zum Jammen.
Die Band ist also menschlich wie musikalisch absolut aufeinander eingespielt.
Tatsächlich ist es so, dass in den Aufnahmesessions für "The Epic"
Kamasi Washington nicht "nur" die siebzehn Stücke eingespielt wurden, die letzendlich auf dem Album gelandet sind.
Nein, man hat sich einen Monat lang in ein Studio eingemietet und dort über hundert(!) Stücke aufgenommen. Fünfundvierzig davon waren Kompositionen
Washingtons, die dann auf die lässige dreistündige Auswahl des Albums heruntergebrochen wurden.
Die andere Hälfte der Stücke besteht aus Material für so acht oder neun noch auf Veröffentlichung wartende Soloalben seiner musikalischen Mitstreiter. Einige dieser Stücke landen auch bereits als Teaser im Liveprogramm von
Kamasi Washington. So wurde z.B.
im November in Hamburg eine Komposition von Keyboarder
Brandon Coleman gespielt.
"The Epic" ist also nur eine - wenn auch sicherlich die voluminöseste - Frucht einer wahrhaftig epischen Produktivität.
Nun, da ich endlich zum Inhalt des Albums komme, zunächst die Entwarnung:
Nein, man
muss "The Epic" nicht komplett am Stück hören!
Ich schrieb ja schon beim (LP-)Triplealbum von
Iron Maiden, dass ich es wohl selten in ganzer Länge hören würde. Und bei
Kamasi sind die schwarzen Rillen ja noch wesentlich länger! Natürlich
kann man es komplett hören, so wie man ja auch einen Abend opfern kann, um sich den
Ultimate Cut von "Watchmen" anzuschauen. Aber es ist halt eine überwältigend große Menge Jazz!
Auch der Künstler selbst betrachtet jede der drei LPs als eigenes Album im Album und hat "The Epic" so in die
Volumes 1 bis 3 unter den Titeln "The Plan", "The Glorious Tale" und "The Historic Repetition" aufgeteilt.
Die Titel sind nicht wahllos aus dem Ärmel geschüttelt, sondern folgen einer Geschichte, die auf einem wiederkehrenden Traum basiert, den
Kamasi zur Zeit der Titelauswahl hatte. Auch diese Geschichte soll irgendwann noch seperat als
Graphic Novel erscheinen. Bis dahin muss die Welt allein mit ihrem Soundtrack vorlieb nehmen, der von der Gruppe der besonders großen und mit Chor und Orchester aufgebrezelten Stücken des Albums gebildet wird.
Nun ist die Vinylversion ja einige Monate nach der Dreifach-CD erschienen, und um die Musik auf Platte zu bekommen, wurde einiges an der Trackreihenfolge umgestellt (und meiner Meinung nach in den meisten Fällen sogar verbessert).
Der einzige Song, der nicht nur die Seite oder Position innerhalb eines "Unteralbums" getauscht hat, sondern komplett in einen anderen Teil rutschen musste, ist das als nicht selbst komponierter Jazzstandard ohnehin etwas aus der Reihe tanzende "Cherokee".
Die zentrale musikalische "Epic"-Geschichte blieb bei der Vinyl-Übersetzung aber bestehen.
Überhaupt kann sich die dicke schwere Box mit den drei Platten sehen lassen. Edler als mit diesem Schuber mit jeder LP in einem einzelnen Karton ließe sich das Werk wirklich kaum präsentieren. Nur ein bisschen leichtgängiger könnte es sein. Gar nicht so unkompliziert, die einzelnen Papphüllen da herauszuschütteln...
Daneben liegen noch je ein Papierbogen mit den Credits und mit einem Anriss / Teaser der erwähnten Traumgeschichte bei. Der Download im
wav-Format fehlt auch nicht.
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Ja, ein Teil habe ich versehentlich verkehrt herum drapiert. ;) |
Jetzt aber wirklich zum musikalischen Inhalt!
Volume 1 - The Plan:
"Change Of The Guard" kann man nicht nur vom Titel her als ein ziemlich selbstbewusstes Statement lesen. Man wird sofort in das als Bläserharmonie gespielte Hauptthema des treibenden Openers hineingeworfen und lernt im Laufe der zwölf Minuten einiges darüber, was auf dem gesamten Album zu erwarten ist.
So wird z.B. gleich die Rolle von Kamasi Washington selbst als Saxophonist und Bandleader definiert, welche sich so durch einen großen Teil von "The Epic" zieht: Zusammen mit Posaune und/oder Trompete gibt er das Leitmotiv der Songs vor. Darüber hinaus fungiert das Saxophon (ebenso wie die anderen Bläser) fast ausschließlich als Soloinstrument. Kamasi ist nie alleiniger Solist (so gehen ihm hier zu Beginn das Piano und die Trompete voraus), diese Aufgabe wird allen Mitgliedern der vielköpfigen Kernband irgendwann zuteil. Allerdings ist er natürlich in jedem Song als Hauptdarsteller vertreten. Sein Spiel von sparsam gefühlvoll bis hin zu schnell und technisch virtuos kann ich als Laie sicherlich nicht jazzpolizeilich korrekt einordnen, doch es ist auf jeden Fall sowohl beeindruckend als auch mit einem klar wiedererkennbaren eigenen Ton gesegnet.
Und dann ist da noch sein Lieblingstrick, den er zum Glück ebenso genügend variieren kann, dass er stets aufregend bleibt und einem immer wieder Gänsehaut bereitet, nämlich einfach jede Feingeistigkeit aufzugeben und das Saxophon mit brutalster emotionsgeladener Lungengewalt zum Quietschen, Kreischen, Bersten zu bringen. Wow!
Die Band hört sich das natürlich nicht gelangweilt an, sondern zeigt auch als komplettes Ensemble, wie Jazz gepflegt ausrasten kann.
Der Opener führt neben zwei Tastenmännern an Klavier und Keyboard auch das Stilmittel der beiden Bassisten (E-Bass und aufrecht akustisch) ein, welche sich in ihrer Führungsrolle abwechseln und der Rhythmussektion eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnen.
Und als wäre das alles nicht genug, muss für den wahrhaft epischen Anstrich noch das Orchesterarrangement als Sahnehäubchen obendrauf. Gerade in "Change Of The Guard" haben Chor und Streicher dabei einen unverhohlenen, ziemlich kitschigen Hollywoodanstrich, der die Rolle des Songs als Overtüre unterstreicht. Mich erinnert das sehr daran, wie
Janelle Monáe in ihren Zwischenspielen
Disney-Streicher einsetzt. Ohnehin sind
Washingtons
Mehr-ist-mehr-Philosophie und das berührungsängstefreie Bedienen in der kompletten Geschichte des Jazz im Grunde stark mit dem vergleichbar, was
Monáe auf
"The Electric Lady" auf der Ebene schwarzer (weiblicher) Popmusik getan hat.
Die große Frage nach dieser Eröffnung ist: Was soll in den restlichen sechzehn Stücken denn noch alles passieren?
Die unmittelbare Antwort in "Isabelle" ist zunächst Reduktion. Allerdings nicht in der Spielzeit, denn auch das zweite Stück läuft über zwölf Minuten - und zeigt, wie man diese auch ganz anders füllen kann. Mit nur sechsköpfiger Band hinter sich, präsentiert Kamasi einen entspannteren, von Akustikbass und Orgel bestimmten Sound, in dem sich alle Solisten von ihrer sensiblen Seite zeigen. Und doch ist da die ganze Zeit über ein gewisses Brodeln unter der Oberfläche, denn Percussions und das etwas kantige Schlagzeug möchten sich mit dieser Ruhe nicht abfinden...
... was uns direkt zu "Final Thought" bringt: Auch dieser Track arbeitet mit der relativen Sparbesetzung, addiert jedoch zum ersten und einzigem Mal auf der ersten LP das zweite Schlagzeug, wobei die beiden Drummer konsequent im linken und rechten Stereokanal voneinander getrennt werden. Mit sechseinhalb Minuten ist der Song der kürzeste des gesamten Albums. Und diese Minuten vergehen in dem schnellen, von lateinamerikanischer Rhythmik bestimmten Stück auch wie im Fluge.
Mit "The Next Step", nach der hier wieder orchestral begleiteten Band benannt, folgt auf Seite B sogleich das viertelstündige, längste Stück, in dem viele unterschiedliche Dinge passieren. Zunächst einmal beginnt es mit traditionellem walking bass fast schon etwas zu "altbacken", entwickelt sich von dort aus aber in immer neue abenteuerliche Richtungen, geht eben den nächsten Schritt. Viele Stimmungswechsel, viel musikalische Geschichtenerzählkunst.
Als fünfter Track "Askim" - noch so ein maximalistischer Brocken!
Das erste Drittel wird von einem eigensinnigen Thundercat-Basssolo bestimmt, in dessen Hintergrund sich die Musik immer größer bis zur vollen Chorgesangskraft aufbläht.
Danach reset und das Spiel beginnt erneut mit dem Saxophon - und noch eine ganze Ecke intensiver von vorn. Und als nach dem dritten Anlauf des Stückes im Finale abermals der Chor einsetzt, singt er für die die letzten Momente von "Volume 1" erstmals Worte und erinnert uns daran, dass in den Credits doch auch etwas von einer Leadsängerin stand.
Volume 2 - The Glorious Tale:
Tatsächlich ist mit "The Rhythm Changes" gleich die Eröffnung des zweiten Aktes ein Vocal Jazz-Stück, welches klar macht, dass das stilistische Pulver nach einer randvollen LP noch lange nicht verschossen ist.
Bisher haben wir gelernt, dass entgegen aller Hip Hop-Referenzen in
Kamasi Washingtons Biographie, welche selbst in Fernsehbeiträgen zu "The Epic" schon fälschlich als entscheidendes Merkmal seiner Musik dargestellt wurden, die Musik auf diesem Album damit tatsächlich so gut wie gar nichts zu tun hat.
Nein,
Washington ist hier durch und durch Jazz-Traditionalist. Wobei die lange Jazz-Geschichte natürlich auf eine Vielzahl von Traditionen zurückblickt, derer er sich bedienen kann.
Seine Basis ist allerdings der von
John Coltrane und
Pharao Sanders geprägte Spiritual Jazz der Sechziger und Siebziger Jahre. Darauf aufbauend setzt er vor allem auf Einflüsse aus Klassik und Gospel und die individuelle Kreativität und Ausdruckskraft in sowohl seinem eigenen Spiel, als auch dem seiner ebenbürtigen Mitmusiker.
Nach den epischen Ekzessen von "Volume 1" nimmt sich der zweite Teil diesbezüglich etwas zurück - keines seiner sieben Stücke durchbricht die Zehn-Minuten-Mauer - und setzt dafür andere Akzente, beginnend mit dem erwähnten Opener, welcher die klassisch soulige Stimme und theatralisch erzählerische Performance von
Patrice Quinn einführt.
Wer im Genre wenig zu Hause ist, mag hier vielleicht Probleme bekommen, weil ungeachtet der Klasse der Sängerin die Texte nach bewährtem Jazz-Brauch eine gewisse naive Schmalzigkeit nicht leugnen können. Aber wer z.B. Metal hört, kennt ja auch einige genrespezifische, gewöhnungsbedürftige Manierismen. Und auch hier gilt: Wen kümmert's, solange der Inhalt gut verkauft wird?
"Cherokee" und "Henrietta Our Hero", die beiden weiteren Gesangsnummern von "Volume 2" berufen sich dann auf die auch in anderen Genres präsente, aber vor allem für schwarze Musik typische Tradition der Feier und Überhöhung weiblicher Heldengestalten.
(Auch an dieser Stelle könnte ich übrigens wieder auf
Janelle Monáes stark von schwarzer und feministischer Identität geprägte "Electric Lady" verweisen.)
"Henrietta" ist als Ode an
Kamasis Großmutter dabei das wohl persönlichste Stück des Albums, welches mir wahrscheinlich etwas zu
corny wäre, hätte ich es nicht noch wirkungsvoller unter Mitwirkung von
Rickey Washington im Livekontext erlebt.
"Leroy and Lanisha" beginnt lässig swingend als Bläser-Duett und lässt sich später unter den Solos von Saxophon und Piano zu ein paar dezent choatischen Wühlereien hinreißen.
In "Re Run" kehrt der große orchestrale Pathos zurück und verbindet sich mit einem weiteren von unzähligen Ohrwurmthemen auf "The Epic". Die rhythmische Begleitung deutet sowohl nach Lateinamerka als auch zur Fusion mit Funk. Allmählich ziehen hier an
Weather Report erinnernde Einflüsse auf.
"Miss Understanding" ist mit seinem eilig laufenden Bass, vielen Breaks und Frickeleien bei hohem Tempo der Show-Off-Track dieses Albumteils. Geht ab und macht Laune. Und gegen Ende deutet
Miles Mosley zumindest einen Teil des Irrsinns an, den er live aus seinem Kontrabass herauskitzelt.
"Seven Prayers" ist eingebettet von den ebenfalls tendentiell eher sanften Nummern "Henrietta" und "Cherokee" fast das Gegenteil von "Miss Understanding".
Dabei kann man allerdings nicht behaupten, dass in dieser Bläser/Piano-Ballade nicht eine Menge spannender Strömungen unter der vermeindlich ruhigen Oberfläche zirkulieren.
Besonders mit dieser Häufung ruhigerer Töne auf der zweiten Hälfte hat "Volume 2 - The Glorious Tale" für sich alleine einen deutlich anderen Charakter als die erste LP, ist zugänglicher und weniger monolithisch.
Das leichtfüßige "Cherokee" ist ein angenehm lässiger Ausklang und wäre durchaus geeignet, einem mit einem zufriedenen Lächeln aus dem Album zu verabschieden.
Aber nichts da! Ein ganzes Drittel, eine Stunde "The Epic" liegen schließlich noch vor uns. Und jetzt dreht
Kamasi Washington noch einmal richtig auf!
Volume 3 - The Historic Repetition:
Mit fünf Stücken, von denen vier instrumental sind und über elf Minuten anschlagen, kehrt der finale Akt des Albums formal zu "Volume 1" zurück. Musikalisch dominiert hier allerdings bei aller cineastischen Epik ein modernerer, bei den meisten Stücken von zwei Drumkits angetriebener Sound.
"The Magnificent 7" ist mit seiner Mischung aus Westernsoundtrack und
washingtonschem Maximalismus vielleicht der repräsentativste Song von "The Epic", die ultimative Wundertüte sozusagen.
Die Keyboardsounds sind funkiger und auch der akustische Bass wird teilweise deutlich mit dem Effektboard aufgepimpt. Auf der Bühne fallen
Coleman und
Mosley am meisten durch aus dem traditionellen Jazz ausbrechende Sounds auf, die sich vielleicht auch erst nach den Aufnahmen so entwickelt haben. Auf dem Album wären die 80er-Jahre-
Moog-Klänge vielleicht auch deplaziert. Doch "Volume 3" gibt dem modernen Spiel besonders dieser beiden durchaus schon hörbar Raum.
"Re Run Home" ist dann ein alternative Version von "Re Run", oder man könnte auch sagen, fast schon ein Disco-Funk-Jam auf dem Originalthema. Vierzehn Minuten geben reichlich Platz für zahlreiche Soloeskapaden über der sehr geradeaus agierenden Rhythmussektion. Besonders das Doppelsolo-Wechselspiel zwischen Posause und leicht mexikanisch tönender Trompete ist hier erwähnenswert.
"Malcolm's Theme" ist das letzte Vocal Jazz-Stück des Albums und wird gemeinsam von
Patrice Quinn und dem Bariton
Dwight Trible gesungen. Diese Vertonung der Grabrede für
Malcolm X ist selbstredend der Song, auf dem der dem gesamten Album innewohnende Gospel-Einfluss am stärksten in den Vordergrund trägt. Und zudem positionieren sich
Kamasi und seine Band hier natürlich nochmal ganz deutlich als schwarze Musiker, was in den USA im Jahr 2015 eigentlich redundant sein sollte, aber wie wir gerade in der jüngsten Vergangenheit sehen mussten, leider absolut
nicht ist. Auch wenn
Kamasi und Co. sich bestimmt in erster Linie als Musiker begreifen, stehen sie mit "The Epic" unvermittelt zusammen mit weiteren Künstlern wie z.B.
Kendrick Lamar an der Spitze einer schwarzen popkulturellen Bewegung, welche ihr Niveau jenseits der
bouncenden und
twerkenden Ärsche sucht, welche im kommerziell erfolgreichen Sphären zuletzt unverzichtbar schienen. Einer Bewegung, die im Rückblick vielleicht zum Soundtrack dieser Zeit werden könnte.
Interessant auch, dass "Malcolm's Theme" ein Sprachsample von ihm selbst enhält, in dem er darüber spricht, ein Moslem zu sein, was derzeit natürlich ein ebenfalls sehr präsentes und rassistisch aufgeladenes Reizthema ist...
Auch wenn der Song vielleicht musikalisch ohne seinen Zusammenhang nicht der größte Höhepunkt von "The Epic" ist, steckt in ihm doch ein großer Teil der Seele des Albums. Ich kann mich natürlich auch nicht von dem Eindruck freimachen, live gesehen zu haben, wie besonders
Patrice Quinn hier wirklich
alles hineingelegt hat; ein Bild das auch bei der Studioversion immer wiederkehrt. Unzweifelhaft ein sehr wichtiger Song.
Malcolm X matters.
Zweiundzwanzig Minuten sind nun noch übrig, und diese werden gerecht zwischen zwei Tracks geteilt. Zunächst einmal folgt eine Übung aus der To-Do-Liste vieler großer Jazz-Musiker, nämlich eine klassische Komposition ins eigene Genre zu überführen.
Kamasi Washington wählt dazu "Clair de Lune", ein Klavierstück von
Claude Debussy, welches auch alle Leute, denen der Name jetzt nichts sagt, irgendwann in irgendeiner Form schon gehört haben, z.B. in den Filmen "Abbitte", "Sieben Jahre in Tibet", "Ocean's Eleven" oder auch *örgs* "Twilight". Was soll man sagen?
Kamasis Version verdirbt das Original in keinem Fall und ist einfach ein sehr schönes, großes Stück Musik.
Zum Abschluss fehlt natürlich die größte Furcht vieler Musikliebhaber, nämlich das Doppel-Drumsolo! Natürlich nicht alleine, sondern eingebettet in die auch sonst sehr actionreiche 7/4-Takt-Komposition "The Message". Geil!
Danach will man glatt noch mehr.
Aber nach drei Stunden jazztastischem Overkill ist auch mal gut.
Fazit:
Ich denke, man merkt schon an der Ausführlichkeit meiner Rezension, dass ich das Album ganz ok finde.
Ach, und was ich noch gar nicht erwähnt habe: Die Produktion, für die Schlagzeuger
Tony Austin verantwortlich ist, klingt einfach fantastisch! Solch ein makelloser, transparenter, powervoller und in sich sich stimmiger Sound, bei so einer Menge von Musik, die unter einen Hut gebracht werden muss - Respekt!
Natürlich können einen über drei Stunden nicht alle Passagen immer gleich stark ansprechen, doch ernsthafte Negativkritik lässt "The Epic" für mich einfach nicht zu. Größer, ambitionierter, leidenschaftlicher kann eine Musikveröffentlichung kaum sein.
2015 ist auf jeden Fall kein anderes mir bekanntes Werk herausgekommen, von dem ich glaube, dass es in seiner langfristigen musikhistorischen Bedeutung an dieses gewaltige Statement heranreichen kann.
Bei mir persönlich wird sich zwar
[SPOILER ALERT!] noch ein ganz und gar anderes
Special-Interest-Album davorschieben, doch in zahlreichen Jahresend-Top-Listen dürfte sich
Kamasi Washington mit "The Epic" zurecht als Spitzenreiter wiederfinden.
Um es mit den Worten
Bela B.s in "Als ich den Punk erfand" zu sagen:
"Jazz!
Lebe, Jazz!
Leebe!"
Anspieltipps: The Magnificient 7, Change Of The Guard, The Message, Re Run Home, Isabelle, Miss Understanding, Clair de Lune