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2015-05-10

MOTORPSYCHO and STÅLE STORLØKKEN - En Konsert For Folk Flest

Diese Verfassung von Norwegen muss ja schon ein verdammt töftes Ding sein, so oft wie ich ihr dieses Jahr begegne. Laibach haben ihr zum zweihundertsten Geburtstag gratuliert, und auch auf dem Roadburn Festival konnte man ihr über den Weg laufen.

Und nun gibt es auch noch von Norwegens Rock'n'Roll-Trio Nr. 1 Motorpsycho und ihrem Jazz-Konspirator Ståle Storløkken ein Live-Album, in welches das Thema zumindest hineinwirkt.

In erster Linie ist "En Konsert For Folk Flest" aber ganz unabhängig davon der heißeste Anwärter auf den Titel des Livealbums/-Videos des Jahres.





MOTORPSYCHO and STÅLE STORLØKKEN - En Konsert For Folk Flest (2LP/CD/DVD) (2015)

Die Kombination von Motorpsycho und dem Jazz-Keyboarder und Komponisten Ståle Storløkken verspricht natürlich an sich schon einiges, haben diese zusammen doch 2012 mit "The Death Defying Unicorn" nicht weniger als eines der großartigsten Rock-Konzeptalben aller Zeiten auf die Welt losgelassen.
Deswegen musste ich auch nicht lange überlegen, als ich von dieser Veröffentlichung von Stickman Records hörte: die selbe Konstellation, diesmal jedoch live in einer riesigen Kathedrale, mit Streicher-Duo, vierundzwanzigköpfigen Chor und einer gewaltigen Pfeifenorgel.
Klingt nach einem Projekt, an dem sich viele Bands verheben könnten. Motorpsycho gehören aber wohl eher zu der Kategorie Gruppen, denen man blind bzw. taub vertrauen kann.

Also habe ich mir das Ding, welches nur in der hier beschriebenen Form zu haben ist, bestellt. Von außen sehr klassisch schlicht gestaltet, ähnlich wie "Death Defying Unicorn", enthält das Doppel-Gatefold eine Menge Inhalt: ein 24-seitiges Booklet im LP-Format mit den Songtexten, Liner Notes und verschiedenen Texten, die das Konzept beeinflusst haben, auf norwegisch und englisch, Das Konzert auf zwei Schallplatten und auf CD, sowie eine DVD mit einer Dokumentation zum Entstehungsprozess und natürlich auch noch einmal dem Konzert selbst.



Ähnlich wie bei Björks "Biophilia live" ist für mich auch hier die DVD das zentrale Medium, aber ein Genuss ist "En Konsert For Folk Flest" immer.


Doch was hat es nun mit diesem "Kozert für die meisten Leute" auf sich?

Es begann damit, dass der Direktor des größten Kulturfestivals Trondheims ein Konzert der "Death Defying Unicorn"-Tour sah und die Band einlud, einen exklusiven Beitrag zu den Olavsfestdagene beizusteuern.

Motorpsycho war der Zeitpunkt für ein neues Großprojekt damals aber zu früh, also einigte man sich darauf, 2014 etwas zu machen, dem Jahr in dem die aufwendige Renovierung der Steinmeyer-Orgel im Nidarosdom abgeschlossen sein würde.
Und da auf dieses Jahr auch schon der eingangs erwähnte Verfassungsgeburtstag fiel, gab es die inhaltliche Vorgabe, etwas über das Folk, über die Norweger zu sagen.

Folk Flest
, "die meisten Leute", ist eine in der norwegischen Öffentlichkeit - und gerne auch von Populisten - überstrapazierte Phrase, mit der sich der Schriftsteller Johan Harstad in seinem furiosen "Manifest for folk flest" auseinandergesetzt hat. Davon inspiriert stellen auch Motorpsycho die Frage, wer denn diese meisten Leute, diese moralisch überlegene Mehrheit der Norweger sind.

Und sie tun dies - erstmals in der Bandgeschichte in ihrer Muttersprache - in fast schon dadaistischer Form, als eine Art stream of consciousness aus zusammengesetzten Fantasiebegriffen, die sich auch ohne Kenntnisse des Norwegischen sehr interessant liest und wie eine skandinavische Mischung aus Magma-Texten und Einstürzende Neubauten-Wortspielen daherkommt.

So enthält der Songtitel "Mammonumamikoma" die auch im Deutschen bekannten Begriffe Mammon und Koma, sowie ein Wort, das den hafentypischen, stechenden Fischgeruch beschreibt.
Und der Ort Kebabylon ist natürlich jene Straße in jeder Stadt, wo sich am lange geöffneten Dönerimbiss die Trinker und Partygänger treffen.

Noch ein paar kleine Textauszüge:

"vergangenheitsbewältigung
forgått/forlatt/for tung
evigfriogevigung"

"Lykkepilegrim;
vel avsted,
en reisende
i brutto-nasjonal-fortrengningers
demon-amin-re-opptaks-funksjonshemninger"

"satanberg
riksløvetannfefolkogfjærlettsaus
kakkerlykkelig
greioggladpakrovisjournalist"
 

Gesungen werden die Texte ausschließlich vom Chor, der jeder noch so schrägen Zeile eine unglaubliche Gravitas gibt. Die Chorarrangements sind dafür dass sie von Rockmusikern kommen, sehr anspruchsvoll, insbesondere mit den rhythmischen Herausforderungen dieses Konzertes dürften die Sänger/innen sonst selten konfrontiert werden.
Stilistisch drängt sich einem gerade im Zusammenhang mit den prog- und jazzrockenden Passagen auch musikalisch der Vergleich mit Magma auf, andere Passagen lassen eher an Horror- oder Fantasy-Soundtracks oder die beiden naheliegendsten Einflüsse, klassischen Kirchengesang oder typische Motorpsycho-Harmonien mit multiplizierter Kehlkraft denken.

Instrumental machen Motorpsycho eine große Wundertüte auf, sozusagen für für "für die meisten Leute", die sich für Musik interessieren etwas dabei, unter maximaler Ausnutzung der Möglichkeiten, aber auch unter Beachtung der speziellen Restriktionen der Spielstätte.
So kann man bei einem Raumhall von acht Sekunden nicht in jedem beliebigen Tempo spielen, ohne unverständlich zu werden, und natürlich ist da die gewaltige Herausforderung und Chance, welche alleine die übermächtige, im Zentrum des Ganzen stehende Kirchenorgel darstellt.

Etwa eine Stunde lang wechseln sich Rockepen zwischen sieben und siebzehneinhalb Minuten mit mal eher choralen, mal experimentellen Zwischenspielen mit Drone/Ambient-Anteilen ab.

Motorpsycho zeigen sich von ihrer proggigen Seite, mal lässig jazzig groovend, mal ihren größtmöglichen Bombast abrufend, immer mit cooler bis knarziger Kante. Das Streicherduo Sheriffs Of Nothingness bedient seine Instrumente dazu oft unkonventionell und steuert viele atmosphärische Geisterklänge bei.
Ståle Storløkken spielt mal leichthändig im Sinne von Pink Floyd, mal gibt er die tiefsten Pfeifen der Orgel frei und entfacht zusammen mit Band und Chor eine unglaubliche tiefe Wucht, von der sich so manche Doom/Sludge-Kapelle sicherlich gerne eine Scheibe abschneiden würde.
Alles in allem bietet die Musik den packenden Rock auf allerhöchsten Niveau, den man von Motorpsycho in den letzten Jahren gewohnt ist (ich persönlich seit "Heavy Metal Fruit") und reichert diesen erfolgreich mit neuen orchestralen, cineastischen, klerikalen, lyrischen Elementen an.

In der Mitte des Sets nimmt die Band selbst sich für über zehn Minuten ganz zurück und lässt vor allem Storløkken solo machen. Die Bilder, wie Hans Magnus Ryan und Bent Sæther währenddessen ihre Instrumente stillhalten und lächelnd mit glänzenden Augen lauschen, gehören zu den stärksten des ganzen Videos. Und sie sahen, dass es gut war!


"En Konsert For Folk Flest" ist eine ganz außergewöhnliche Veröffentlichung. Motorpsycho (und ihr kongenialer Mitstreiter) machen einfach keine halben Sachen.
Ein toller Beleg dafür, was Rockmusik alles kann - und einfach ein fantastisches, einmaliges Konzert.

Anspieltipps: Lykkepilegrim, Kebabels tårn, Mammonumamikoma, Grandiosa, Imens ved Bipolarsirkelen...

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