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2016-07-24

SWANS - The Glowing Man

Als Michael Gira 2010, zwölf Jahre nach "Swans Are Dead", seiner Band neues Leben einhauchte, war zunächst noch nicht klar, welchen Koloss er da erweckt hatte.

Sängerin Jarboe war nicht dabei, es fehlte also etwas, und das noch deutlich unter dem Einfluss der Angels Of Light stehende Comeback-Album "My Father Will Guide Me Up A Rope To The Sky" gehörte - ganz anders als die abgründigen, die Kehle zuschnürenden "Soundtracks For The Blind" von 1996 zu den vergleichsweise entspannteren Werken der langen Bandgeschichte.

Doch dann kam das große Aufbäumen. "The Seer" war ein Monolith von einem Album, auf dem die Swans in Mehr-ist-mehr-Manier scheinbar die Qualitäten all ihrer unterschiedlichen Phasen zu einem überwältigenden, in seiner Intensität kaum zu verarbeiteten, zweistündigen Brocken gebündelt haben.

Unglaublicherweise war dieses Werk, das ich damals "als die absolute Kulmination eines abgründig visionären Musikerdaseins" empfunden habe, aber erst der Auftakt zu einer Trilogie, die in ihrer Kraft, Größe und niemals wankenden Qualität wohl vergebens ihresgleichen sucht.

Nachdem Gira angekündigt hat, diese Inkarnation mit Norman Westberg (Gitarre), Christoph Hahn (Lap-Steel-Gitarre), Christopher Pravdica (Bass), Phil Puleo (Drums) und Thor Harris (Perkussion, Posaune, Vibraphon und hastenichtgesehen) nach der dazugehörigen Tour zu Grabe tragen zu wollen, ist "The Glowing Man" nun also der große Schwanengesang. Ja, ich weiß: Euro ins Phrasenschwein.



SWANS - The Glowing Man (3LP+DVD) (2016)

Genau wie der direkte Vorgänger "To Be Kind", der die brutale Gigantomanie von "The Seer" vom eher Collagenhaften in eine zugänglichere, songorientiertere Form überführte, schlägt auch das neue Werk wieder bei satten zwei Stunden an.

In Tonträgern bedeutet das zwei CDs, bzw. in der Variante, für die ich mich diesmal entschieden habe, 3 LPs. Auf diese verteilen sich nur acht Songs, d.h. die durchschnittliche Tracklänge ist schon ziemlich beachtlich. Zwei Stücken werden durch einen Seitenwechsel unterbrochen, was allerdings in klug ausgewählten Passagen passiert und daher überhaupt nicht stört.

Optisch gleicht das Triple-Gatefold im braunen Karton dem von "To Be Kind". Dessen weinende Babys waren genau wie die Monster auf "The Seer" zwar noch spannender als die (aufgespießten?) Gliedmaßen hier, doch sehr ansprechend ist die Covergestaltung zweifellos auch dieses Mal.


Die regulären Extras sind ein Downloadcode für das Album, sowie ein Poster, für das ich leider - wie für schon so viele ähnliche Schallplattenbeigaben - keinen Wandplatz frei habe.

In Kombination mit Vinyl nur exklusiv in dieser Deluxe Version für Vorbesteller kommt eine sehenswerte Live-DVD mit Eindrücken der letzten Europatour. Sie enthält sechs Stücke, davon vier Longtracks von "The Glowing Man", die in ihrer Entwicklung schon sehr nah an den Albumversionen sind. Ich würde sagen, dass der hier festgehaltene Zeitpunkt in der steten Evolution des Swans-Programms irgendwo zwischen dem letzten Livealbum "The Gate" und dem aktuellen Studiowerk liegt. Die Konzertaufnahmen sind zwar technisch betrachtet nicht wirklich authentisch, da die bewegten Bilder oft auch von anderen Shows als der Tonquelle stammen, doch die Essenz einer Swans-Show wird durchaus erstaunlich gut transportiert - vorausgesetzt natürlich, dass man entsprechend aufdreht.

Oftmals schaut man sich Bonus-DVDs ja nur ein oder zwei Mal an, diese hier bleibt aber ganz klar auch darüber hinaus sehenswert. Der überzeugendste Grund, diese Silberscheibe nicht einzuschmeißen, ist für mich ganz klar, dass man zu sehr damit beschäftigt ist, das Studioalbum rotieren zu lassen.


"The Glowing Man" führt in vielerlei Hinsicht die Tradition seiner beiden Vorgänger fort. Es ist groß, extrem dynamisch, vielschichtig, erstklassig produziert.
Stilistisch passiert nichts vollkommen Neues, es bewegt sich alles im abgesteckten Rahmen. Aber dieser bietet ja bereits reichlich Raum.

Die erste LP würde mit den beiden Song-Geschwistern "Cloud Of Forgetting" und "Cloud Of Unknowing" schon als in sich geschlossenes Werk durchgehen.
Der Opener beginnt verhältnismäßig ruhig und führt gleich ein paar zentrale Merkmale des Albums ein: Man lässt sich noch mehr Zeit, um mit breiten Teppichen aus Lap-Steel-Guitar, Dulcimer, Vibraphon, Klavier, Bläsern usw. Stimmungen aufzubauen. Der größte Teil des Albums befindet sich in einem langen auf- und abschwellenden Fluss. Beinahe jede Passage wird ausgiebig hypnotisch repetiv zelebriert, ohne dass die Musik dabei jemals statisch wird oder an Spannung verliert.

Dabei muss auch nicht jeder Track alle Eskalationsphasen des Swans-Sounds durchleben, das ist allein den drei Stücken "Cloud Of Unknowing", "Frankie M" und dem Titelsong vorbehalten, welche auch gleichzeitig jene Brocken sind, die es auf jeweils über zwanzig Minuten Spielzeit bringen und sich im Falle der beiden letztgenannten auch klanglich am nähesten an den einschüchternden halbstündigen Giganten von "The Seer" und "To Be Kind" bewegen.

Mit dem bereits erwähnten Opener und dem mittendrin plötzlich fast lateinamerikanisch tanzbar werdenden "The World Looks Red / The World Looks Black" gibt es noch zwei kleinere Longtracks zwischen zwölf und fünfzehn Minuten.

Eine Abhängigkeit zwischen Songlänge und Qualität gibt es auf "The Glowing Man" allerdings zum Glück nicht. Und so sind auch die drei nur durchschnittlich fünfminütigen Lieder, die sich zwischen  die Riesen geschoben haben, alles andere als Füller.

"People Like Us" ist eine klassische Swans-Crooner-Ballade, die auch aus den Neunzigern stammen könnte. Zugegeben vielleicht der unspektakulärste Song hier, aber immer noch für sich fantastisch und im Zusammenhang ein angenehmer Durchatmer, bevor einem "Frankie M." wieder alles abverlangt.

"When Will I Return" ist emotional ein Herzstück des Albums. Gesungen von Michael Giras Ehefrau Jennifer verarbeitet es einen sexuellen Übergriff, den sie erleben musste. Unangenehme, schwere Kost. Doch genau wie Tori Amos in der erneuerten Liveversion von "Me And A Gun" schließlich die Oberhand über den Täter gewinnt, geht auch Jennifer Gira mit erhobenem Haupt aus der Erfahrung. Ihr "I'm alive" ist in seiner Simplizität das stärkste Mantra eines an beschwörenden Gesängen nicht armen Albums.

Im letzten Track "Finally, Peace" entdecken die Swans den Swing und klingen erstaunlich leichtfüßig und harmoniebedürftig. Auch wenn die instrumentalen Anteile auf "The Glowing Man" überwiegen, sind die Gesänge doch alles andere als gekleckert. "Finally, Peace" ist dafür der finale Beweis, um auch den letzten Zweifler zu überzeugen. Diese Chöre sind einfach himmlisch.
Ein sehr versöhnlicher Abschluss für dieses Album und diese gesamte Schaffensphase der Swans.

Auf der LP endet der Song übrigens ganz plötzlich im beatleschen "I Want You (She's So Heavy)"-Stil, während er es in der Digitalversion noch etwas weiter bis zu einem Ausklang schafft. Unmöglich zu sagen, ob das als Unfall oder als bewusstes Arrangieren mit dem Platzmangel auf der Langrille entstanden ist. Ich mag die LP-Variante jedenfalls sogar ein bisschen lieber.

(Weitere Analog/Digital-Unterschiede sind mir - abgesehen von den Seitenwechseln in "Cloud Of Unknowing" und "The Glowing Man" - nicht aufgefallen.)


Welches der drei Alben nun tatsächlich das Essentiellste ist, mag ich jetzt noch nicht beantworten. Wahrscheinlich werde ich es wohl nie wissen. Entscheidend ist ohnehin nur, dass "The Glowing Man" das Niveau von "To Be Kind" mindestens hält, und die Swans somit ein weiteres überlebensgroßes Ausrufezeichen in die Geschichte der Rockmusik gemeißelt haben.

Ich schrieb ja schon eingangs von "einer Trilogie, die in ihrer Kraft, Größe und niemals wankenden Qualität wohl vergebens ihresgleichen sucht."

Das muss dann an dieser Stelle auch das Fazit der letzten sechs Jahre Swans im Studio bleiben. Wie Meister Gira das Monstrum live verabschiedet, ist in Deutschland im Oktober zu besichtigen. Ich bin schon höchst gespannt.

Eines ist sicher: "The Glowing Man" wird bei mir am Jahresende ganz weit oben um den Titel des Album des Jahres mitspielen. Da müssten schon ein paar mittlere Wunder geschehen, um das zu verhindern.





Anspieltipps: Cloud Of Unknowing, Finally Peace, The Glowing Man, When Will I Return



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