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2016-07-04

AYREON - The Theater Equation

2004 brachte Arjen Lucassen mit "The Human Equation" sein für mich nach wie vor größtes Ayreon-Album heraus.

Auf keinem anderen Werk finden alle Bestandteile, die Ayreon ausmachen, so perfekt zusammen wie auf diesem Doppelalbum; die Mischung aus Metal, Progrock und Folkelementen, zahlreiche Gastsänger in unterschiedlichen Rollen, alles eingebettet in anspruchsvolle und doch äußerst ohrwurmige Songs.
Und da Lucassen (anders als Kollege Tobias Sammet mit seinen furchtbaren Avantasia) über einen guten Geschmack und ein ausgezeichnetetes Gespür für das richtige Maß an Naivität, Tiefgang, Härte und Kitsch verfügt, ist "The Human Equation" für mich nicht weniger als das beste Rock-Opera-Album aller Zeiten.

Im September 2015 wurde die Geschichte um einen Mann im Koma, der im Krankenbett mit seinen Emotionen ringt, während sich an seiner Seite seine Frau und sein bester Freund die Schuld für seinen Autounfall geben (um die Story mal sehr grob anzudeuten), für vier Aufführungen in einem Rotterdamer Theater zum Leben erweckt.

Ich war ja durchaus versucht, dem Geschehen live beizuwohnen, allein Zeit und Geld...

Zu meinem Glück wurde das Ganze aber am letzten Tag aufgezeichnet und ist nun in verschiedenen Versionen für zu Hause erhältlich. Ich habe mich für das Digipack mit DVD und zwei Audio-CDs entschieden.

   

AYREON - The Theater Equation (2CD+DVD) (2016)

Wie von InsideOut gewohnt ist die Aufmachung des von Meister Lucassen selbst signierten (da vorbestellten) Digipacks über jeden Zweifel erhaben.

Kommen wir also gleich zum Inhalt: Genau wie das Album ist die Bühnenumsetzung in zwei Akte aufgeteilt, welche beide jeweils zehn Tage der Handlung abdecken.

Die Bühne besteht aus drei Ebenen, von denen die unteren beiden Unterbewusstsein und die Erinnerungen an Schauplätze seines Lebens (Kindheit, Arbeitsplatz, Autowrack) des Protagonisten repräsentieren, während sich oben die reale Welt mit dem Krankenbett befindet. Hier agieren auch die Band und der bis zu neunzehnköpfige Chor, der die zehn Hauptsänger(innen) unterstützt.

Die Band ist selbstverständlich mit absoluten Könnern besetzt und sehr gut aufeinander eingespielt, umfasst sie neben der unvermeidlichen Powerdrumming-Präzisionsmaschine Ed Warby doch auch noch zahlreiche weitere Musiker aus dem Ayreon-Umfeld, die u.a. zuletzt zusammen am Album des Lucassen/van Giersbergen-Projekts The Gentle Storm bzw. dessen gelungener Liveumsetzung (z.B. auf dem Wacken Open Air) mitgewirkt haben.

Dies gilt auch für den nicht auf der Bühne stehenden musikalischen Direktor des Unterfangens Joost van den Broek, welcher auf "The Diary" das Klavier beigesteuert hatte.
Auch Arjen Lucassen, welcher sich in der Livesituation bekanntermaßen weniger wohl fühlt als im Studio, begnügt sich abgesehen von einem Cameo am Ende mit der Rolle hinter den Kulissen.

Die Originalsänger von "The Human Equation" stehen allerdings fast alle auf der Bühne und liefern allesamt eine fantastische Performance ab. James LaBrie ist als Protagonist Dreh- und Angelpunkt des gesamten Geschehens, und es tut mir für ihn tatsächlich etwas weh, dass er dieses Jahr so oft für die im Vergleich bei aller teurer Showtechnik doch eher blutleere "The Astonishing"-Show von Dream Theater raus muss, nachdem er Teil dieser wesentlich spannenderen Konzeptalbums-Aufführung war.

Die weiteren original besetzten Rollen sind die Ehefrau (Marcela Bovio, auch live bei The Gentle Storm dabei), Eric Clayton als Verstand, Heather Findlay als Liebe, Devon Graves als Qual, Magnus Ekwall als Stolz und Irene Jansen (Verwechslungsgefahr mit ihrer Schwester Floor Jansen von Nightwish nicht ausgeschlossen) als Leidenschaft.

Nur drei Charaktere wurden neu besetzt:

Arjen Lucassen delegiert seine eigene Gesangsrolle als bester Freund an Jermain van der Bogt (aka Wudstik), mit dem er schon auf "01011001" zusammengearbeitet hatte. Das in Holland als Hansdampf in allen musikalischen Gassen zwischen Hip Hop und Progrock tätige Sangeswunder stellt das Original ganz klar in den Schatten. Und das ist keineswegs despektierlich gegenüber Lucassen gemeint. Insbesondere die Duette mit Marcela Bovio sind reines Gold.

Devin Townsends Rolle als Zorn hat deutlich mehr Einsätze als in der Studioversion und fusioniert außerdem mit dem Vater. Gesungen wird sie von Mike Mills, der auf dem letzten Ayreon-Album "The Theory Of Everything" bereits einen anderen Vater verkörperte.
Mills' Auftritt ist der wahnwitzigste und wohl auch spaßigste Teil der gesamten Show, vollkommen irre, der Typ.

Die dritte und ungewöhnlichste Neubesetzung betrifft die ursprünglich von Opeth-Mastermind Mikael Åkerfeldt verkörperte Furcht, welche von Anneke van Giersbergen naturgemäß ganz neu interpretiert wird. Von allen Änderungen mag dies für viele Fans wohl die gewöhnungsbedürftigste sein. Ich hatte damit allerdings keine Probleme, schon weil Anneke van Giersbergen für mich ja grundsätzlich eine Bereicherung für jede musikalische Darbietung darstellt.

Åkerfeldts gelegentliche Grunts sind trotzdem nach wie vor vertreten und scheinen aus den Reihen des Chores zu stammen.

Eindeutig erkennbar ist dies leider nicht, womit ich beim größten Kritikpunkt dieser Veröffentlichung bin: Die Bildauswahl und Kameraführung wird dem Niveau der Aufführung leider nicht gerecht, sondern erweist sich leider als sowohl von der Handlung, dem Bühnengeschehen, als auch den Lichtverhältnissen überfordert. Fernsehausstrahlungstauglich ist dieses Bild leider nicht - dabei hätte das Konzert es so sehr verdient.
Arjen Lucassen selbst gibt auf facebook ganz offen zu, dass ihn die Leistung des Filmteams alles andere als begeistert hat und es eine ziemliche Qual war, aus dem Material etwas brauchbares herauszuholen.
Das hat er letztendlich auch ganz gut hinbekommen, denn es ist am Ende auch nicht so, dass einem der Genuss der DVD verdorben wird. Es fehlen aber einfach Schwenks, Close-Ups und dramatisch sinnvollen Schnitte, sowie die höhere Bildqualität, nach denen die Show schreit.

Der Ton allerdings (Stereo oder 5.1) ist zum Glück einwandfrei. Und für alle, die mit dem Album nicht vertraut sind gibt es sehr hilfreiche Untertitel - sogar in verschiedenen Sprachen -, mit deren Hilfe stets ganz genau nachvollziehbar ist, wer da gerade was singt.


Doch zurück zum Wesentlichen:

Obwohl die Band mit Zwei-Gitarren-Rockbesetzung, mehreren Keyboards, Geige, Cello, Flöte und Holzbläsern schon recht breit aufgestellt ist, kann sie natürlich nicht alle Nuancen des Albums hundertprozentig reproduzieren.  Die Energie der Liveaufführung gleicht dies jedoch locker aus, so dass es tatsächlich kein Detail gibt, welches ich ernsthaft vermisse.

Anderseits gibt es einige zusätzliche Arrangements. So wird z.B. "Day Four: Mystery" durch einen langen A Capella-Teil des Chors erweitert. Zwischen den Songs tauchen einige Reprises auf, welche die Handlung noch etwas verdichten und entweder ebenfalls vom Chor getragen werden ("Reprise Pain 2")  oder Bruchstücke vorangegangener Songs mit veränderten Sängern und/oder Texten wieder aufgreifen.

Sowohl hier als auch für einige angepasste Textzeilen in den regulären Songs tauchen auch ein paar auf dem Album nicht enthaltene Nebenrollen auf, welche sich aus dem Chor rekrutieren: der Arzt, die Krankenschwester und die Mutter.

All diese kleinen Anpassungen sind sinnvoll und auf jeden Fall eine Bereicherung für die Umsetzung.

Es wird zwar durchaus geschauspielert (sogar inklusive einiger neuer gesprochener Sätze), doch natürlich ist "The Theater Equation" definitiv kein Theaterstück, sondern ganz klar eine Rock-Oper mit Betonung auf Rock bzw. Metal. Und natürlich den gleichwertig eingebetteten Musical-Elementen. Es tut jedoch niemand hier so, als wolle man sich um einen Tony Award bewerben. Nein, alle Konzentration ist darauf gerichtet, ein meisterhaftes Konzeptalbum angemessen auf die Bühne zu bringen.

Und das gelingt beeindruckend. Genau wie das zugrunde liegende Album findet "The Theater Equation" immer das richtige Gleichgewicht zwischen all seinen Bestandteilen. Vor allem aber reiht sich ohne Durchhänger ein Höhepunkt an den nächsten. Ja, ich bin hochoffiziell neidisch auf alle Fans, die diese Show live erleben durften.

Trotz der filmischen Mängel ist dies bisher für mich die Liveaufzeichnung des Jahres.
Da ich aber generell Musik-DVDs nicht allzu häufig einschiebe, sind die Audio-CDs hier aus meiner Sicht ohnehin das Hauptmedium.

Und ähnlich wie bei "Operation Mindcrime" oder "Scenes From A Memory" habe ich auch hier das Gefühl, dass sich die Liveversion in meiner Rotation langfristig sogar gegen das Studiowerk durchsetzen könnte.

Fabelhaft!




Anspieltipps: Von vorne und ganz! Ist schließlich "The Human f***ing Equation"!


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