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2019-07-29

LINGUA IGNOTA - Caligula

Heilige Scheiße, jetzt wird's monströs.

Ganz unvorbereitet hat mich das neue Album von Kristin Hayters Ein-Frau-Projekt Lingua Ignota  zwar nicht getroffen, zumal ich dieses Jahr bereits eines ihrer geradezu schmerzhaft intensiven Konzerte erleben konnte.

Doch wie sehr es ihr gelungen ist, diese einmalige Energie auch im Studio einzufangen und noch darauf aufzubauen, damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet.



LINGUA IGNOTA - Caligula (CD) (2019)

Da "Caligula" ein sehr gesangszentrisches Album ist, möchte ich mich der Gesamtstimmung des Werkes hier einmal über einige Titel und Textfetzen seiner elf, wie ein einziger bitterer Koloss zusammenhängenden Tracks annähern:

"Spite Alone Holds Me Aloft" / "If The Poison Won't Take You My Dogs Will" / "Butcher Of The World" / "Fucking Deathdealer" / "Sorrow! Sorrow! Sorrow!" / "Everything burns down around me, everything burns down" / "How do I break you before you break me?" / "Life is cruel and time heals nothing" / "I don't eat, I' don't sleep, I let it consume me" / "May failure be a noose with which to hang you" / "Make worthless your body so no man can break it" / "All I want is boundless love. All I know is violence".

Nein, dieses Album enthält keine Sekunde leichte Kost. Hayter kanalisiert das aus Missbrauch geborene Trauma, die Hilflosigkeit und vor allem den unbändigen gerechten Zorn in einem maßlosen, zerstörerischen Exorzismus, an dem sich unmöglich unbeteiligt vorbeihören lässt.

Die Philosophie der gesamten Produktion ist dabei zweifellos ganz oder gar nicht. Wenn die Künstlerin, die neben Gesang, Texten und auch allen hervorragend in Szene gesetzten Cover- und Booklet-Fotos neunzig Prozent der Arrangements von Lingua Ignota zu verantworten hat, sich in Extreme begibt, dann nur mit vollem Einsatz. Darauf deutet auch schon die Auswahl ihrer Gäste hin, die ansonsten u.a. in so unnachgiebig unfreundlichen Gruppen wie Full Of Hell oder The Body ihr Unwesen treiben.

Stilistisch lässt sich Lingua Ignota am ehesten aus Mischung aus Neoklassik, Industrial und Noise beschreiben, doch jede Schublade kann hierfür eigentlich nur unzureichend bleiben.

"Caligula" ist mal pompös und bombastisch wie Anna von Hausswolffs "Dead Magic", mal fies wie Pharmakon. Es ist ein Album ohne Gitarren, doch so viel mehr metal als Metal, dass die meisten Otto-Normal-Wackengänger hier schlotternd die Das-ist-keine-Musik-mehr-Karte ziehen werden.

Große Teile des Albums werden instrumental tatsächlich nur von minimalistischen Klaviermelodien à la Angelo Badalamenti ("Twin Peaks") getragen, doch Kristin Hayters exzentrisch klagender, auch mal operettenhafter oder regelrecht hässlicher Gesang entlässt den Hörer nur selten für wenige Herzschläge in die Entspannung. Hayter singt, als wäre Lady Gaga, mit der neben der offensichtlichen äußerlichen Ähnlichkeit tatsächlich auch die grundsätzliche Stimmfarbe gerade in tiefen und mittleren Lagen teilt, von Diamanda Galas besessen. Vermutlich sogar noch wesentlich theatralischer und gepeinigter als dieser Vergleich nahelegt.

Lingua Ignota live auf dem Roadburn 2019
Und dann sind da noch diese geradezu obszön in überschäumender Kakophonie badenden Lärmexplosionen, zu denen sie wie am Spieß schreit wie eine ganze Horde Amalie Bruuns im ärgsten Black-Metal-Modus.

Neben diesen vorhersehbaren Abstürzen in die Hölle arbeitet die Produktion allerdings auch mit gemeinen dynamischen Tricks. Die Instrumente, vor allem aber der Gesang sind jederzeit frei, sich im Raum zu bewegen und einen in tückischen Jump-Scare-Attacken anzufallen.

Nun ist "Caligula" gewiss nicht das einzige Musikalbum in meiner aktuellen Rotation, welches hemmungslos krachverliebt, fordernd und anstrengend ist. Doch ob ich nun in dem "Mandy"-Soundtrack von Jóhann Jóhannsson oder Big|Braves "A Gaze Among Them" lausche. gegen diesen Ungetüm sind sie fast noch zahme Welpen. Selbst das zwei komplette Bands auffahrende Mehr ist mehr ist mehr des Waste Of Space Orchestra kann sich nur mit Mühe gegen diese Intensität behaupten.

Und doch ist Lingua Ignota sehr viel zugänglicher als z.B. das ähnlich um Text und Gesang kreisende "Create Christ Sailor Boy" von Hypnopazūzu oder die fußnägelbiegend sperrigen The Poisoned Glass.

Denn mit ihrer barocken Großspurigkeit und den an jeder Stelle zitierfähigen Texten ist dieses zunächst so unanhörbar scheinende Biest doch erstaunlich kurzweilig und mit zahlreichen Stellen gesegnet, die ich in beinahe jedem anderen Musikreview als Ohrwürmer bezeichnen würde. Begrifflich passt das aber irgendwie nicht mit der ernsthaften Theaterhaftigkeit Lingua Ignotas zusammen.

Was allerdings auf jeden Fall passt, ist "Caligula" als Meisterwerk zu benennen. Und zwar mit Sicherheit eines der relevantesten des Jahres - gerade auch angesichts des rapist-in-chief und dramatischer gesellschaftlicher Rückschritte im Kampf um die Selbstbestimmung über den weiblichen Körper.
Das Album ist das Aufbegehren gegen einen persönlichen Alptraum und die Machtumkehrung darin, aber es ist genauso auch ein Zeugnis seiner Zeit.

Und es ist monströs gut. 






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