Sometimes German, sometimes English. • The title of this blog used to change from time to time. • Interested in me reviewing your music? Please read this! • I'm also a writer for VeilOfSound.com. • Please like and follow Audiovisual Ohlsen Overkill on Facebook!

2022-07-17

ARCHIVE - Call To Arms & Angels / Super8

Hatten wir uns entfremdet? Ein bisschen auseinandergelebt vielleicht. "The False Foundation" von 2016 war - und ist für mich immer noch - ein recht durchwachsenes Album. Und danach folgte 2020 mit "25" eine Jubiläums-Überarbeitung des eigenen Schaffens, die mich einfach nicht besonders interessierte, so dass das Ding es nie von meiner Merkliste in den Warenkorb geschafft hat.

Anderseits gab es zwischendurch schon ein paar Lebenszeichen von Archive, die mich sehr stark ansprachen, wie z.B. das digitale "25 Live". Nicht zu vergessen, dass das Material von "False Foundation" auf der Bühne des wegen rechtsquerer Spinnerei des Betreibers inzwischen nicht mehr besuchbaren Docks dann doch großenteils ganz hervorragend funktionierte. Selbst wenn es im Studio mal schwächelt, bleibt das Kollektiv live also ein phänomenales Ereignis.

Trotzdem fand die Gruppe in meiner Wahrnehmung trotz aller vergangenen Großtaten bei mir in den letzten Jahren recht weit am Rande statt. Bis zur Ankündigung ihres zu dem Zeitpunkt noch unbetitelten zwölften Studioalbums...

ARCHIVE - Call To Arms & Angels (3CD Deluxe Edition) (2022)

Der Plan war simpel: Ein eigenes Studio bauen, darin ein neues Album aufnehmen, alles stilvoll mit der Super 8-Kamera dokumentieren. Es kam natürlich pandemiebedingt anders. Das eigene Recording-Reich wurde nicht rechtzeitig fertig, so dass man "nur" in ein legendäres Londoner Studio in Rufweite der Abbey Road ausweichen und immer noch einige Aufnahmen räumlich voneinander getrennt realisieren musste. Die Dokumentation drehte die Band dennoch, und der erste Teaser dafür sah nicht nur vielversprechend aus, sondern überzeugte vor allem durch seinen eigenen Soundtrack, der ein paar Versionen des bereits vorbestellbaren Albums als Bonus beilag. Tatsächlich bewog mich das bisschen, was ich von diesen an "Axiom" erinnernden Synthie/Trip-Hop/Postrock-Score hörte, bereits davon, dass sich die Anschaffung des Albums lohnen würde.

Das komplette, inzwischen auch separat digital erhältliche Album "Super8" bestätigt und bekräftigt diesen Eindruck nun vollends. Das ist alles ein wenig fragmentarischer als von Archive gewohnt, mehr Dub und Club und überdeutlich weniger Gesang als sonst, doch ebenfalls sehr abwechslungsreich und doch aus einem atmosphärisch ungeheuer dichten Guss.

Hätte es noch eines weiteren Arguments zur Vorbestellung bedurft - außer dass diese Bonusdisc schon value for money versprach und das eigentliche Album sich über zwei weitere volle CDs erstrecken würde -, so kam dies unmittelbar mit dem viertelstündigen Track "Daytime Coma", der Archive von ihrer durch Klassiker wie "Lights" und "Pulse" etablierten, epischsten Seite zeigt, ohne einen bereits existierenden Longtrack zu kopieren.

Auf Basis eines leichtfüßig tröpfelnden and doch melancholisch hypnotisierenden Klavierthemas baut die Gruppe - hier mit Dave Pen am Mikrofon - ganz langsam eine Stimmung urbaner Isolation auf und steigert diese mit unerwartet elektronischen Mitteln, die dann doch in packendem Uptempo-Artrock münden und schließlich nach einem Spannung anstauenden Abebben in ein grandioses Finale (diese Basslinien!) münden.

Für sich schon alleine ist "Daytime Coma" schon einer der großartigsten Tracks des Jahres. Von hier an ist alles andere im Grunde Kür. Eine Kür aus immerhin siebzehn Songs...

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Zehn-Minuten-Marke wird von keinem weiteren Track gerissen. Und das ist wohl auch gut so, bildet "Call To Arms & Angels" Archive doch in ihrer maximalen stilistischen Breite ab, für die das Kernduo aus Darius Keeler und Danny Griffiths wieder zahlreiche Sänger/innen in ihrem Kollektiv um sich geschart haben. Am dominantesten vertreten sind dabei die aus Australien zugeschaltete Holly Martin, die sowohl das Elektroruckzuck von "Numbers" als auch ergreifende Balladen wie "Shouting Within" tragen kann und die beiden wie gewohnt ebenso an Gitarren zu hörenden Pollard Berrier und Dave Pen. Dazu kommt mit "Head Heavy" und "Gold" eher qualitativ als quantitativ vertreten Maria Q und die sich gleich im Opener "Surrounded By Ghosts" vorstellende neue Stimme in der Runde Lisa Mottram.

Unterstützt von zahlreichen Stamm- und Gastspielern, von denen vor allem Multiinstrumentalist und Streicherarrangeur Graham Preskett hervorzuheben ist, erschafft die Band ein breites Panorama von potentiell radiotauglichen Pop- und Rockhits, die wahrscheinlich nur durch die dann doch zu anspruchsvollen Arrangements in zu düsterer Grundstimmung vor breitem Airplay bewahrt werden, bis zu mehrteiligen, sperrigen Experimentaltracks, welche die von Archive eingefangene  zerrissene, zerfaserte Atmosphäre der Massenisolation und Entfremdung des Menschen vor sich selbst auf die Spitze treiben.

Man picke sich nur einmal "Freedom" heraus, das zweitlängste Stück, Opener der zweiten Albumhälfte: ein mit elektronischen Mitteln interpretierter Britpop-Song mit beatleskem Refrain, Eminem-Anspielungen in den Strophen und einer in guter "Day In A Life"-Tradition komplett losgelösten zweiten Hälfte als einfühlsames Klavierstück mit neuer Leadgesangsstimme. Archive vollziehen diesen Spagat mit maximaler Ernsthaftigkeit ohne mit der Wimper zu zucken. Und es funktioniert.
Im Grunde ist dies schon beinahe das ganze Album in a nutshell. Denkt man zumindest im Moment. Tatsächlich aber präsentiert sich in jedem Track mindestens eine neue Facette aus dem kreativen Arsenal der Gruppe.
Tendenziell finden sich die catchigeren Stücke wie z.B. "Fear There & Everwhere" dabei vorwiegend zu Beginn und das abstraktere, kopflastigere Material wie "The Crown" in der zweiten Hälfte, doch selbst hier sind noch veritable Hits gestreut, prägen sich die Melodien von "We Are The Same" oder dem Radiohead-Soundalike "Everything's Alright" doch unmittelbar ein und weigern sich hartnäckig, aus dem Kopf zu verschwinden.

Zwei volle CDs von alledem, das ist so viel wie "Controlling Crowds (Parts I - III)" und das spätere Addendum "Controlling Crowds, Pt. IV" zusammen. Und tatsächlich scheinen mir das gewaltige Doppelwerk von 2009, sowie "With Us Until We're Dead" von 2012 und das bereits erwähnte "Axiom" (2014) auch am ehesten die Messlatten aus dem Backkatalog zu sein, die man hier ohne Zögern anlegen sollte. Und selbst angesichts der Klasse dieser Referenzen kommt das neue Werk mit mehr als nur erhobenem Haupt aus diesem Vergleich hervor.

Es ist einfach eine unglaubliche Masse an durchgehend hochwertiger, innovativer, tiefsinniger, abenteuerlicher und doch griffiger Musik, die einem "Call To Arms & Angels" ins Hirn brennt.

Klar warte ich nach wie vor auf einen den Beginn der Gruppe als Trip-Hop-Projekt honorierenden Rapper, doch dies bedeutet nicht, dass er hier tatsächlich fehlen würde. Und so stehe ich angesichts der Perfektion dieses Albumriesen vollkommen ohne Negativkritikpunkt da.     

Haptisch gibt es an der 3-CD-Version im Digibook mit Texten und zahlreichen zum Super 8-Stil passenden Polaroidfotos auch nichts auszusetzen. Höchstens vielleicht, dass sie anders als die 3-LP-Variante des Albums keine komplette Abbildung des Coverartworks enthält.

Doch damit kann ich wohl zu leben lernen. Vor allem mit dieser Klangkulisse!









Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen